Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
zu finden sein. Und so war es auch: Schon das Material über seine frühen Jahren nahm einen ganzen Wagen voller Schachteln in Anspruch. Ich fand es beinahe peinlich, so viele Dokumente über einen Menschen zu finden, der im Leben äußerst verschlossen gewesen war. Ich sah mir sein Familienstammbuch an, das Abgangszeugnis der
Hogere Burgerschool
, einer Art Gymnasium; betrachtete seine Promotionsurkunde und blätterte in seiner Dissertation. Ich überflog Mappen mit Zeitungsauschnitten, nahm Interviews aus der Zeit des Ersten Weltkriegs unter die Lupe.
Piet Oud scheint über jene Periode auffallend wenig geäußert zu haben. Kein Wunder, dass sein Biograf so wenig darüber berichtet. Nichts über seine Erfahrungen als Sergeant bei der Infanterie; nichts über seine Amsterdamer Jahre, fernvon Frau und Kind, wo er viel Zeit gehabt haben muss, um etwas mit Annetje anzufangen.
Aber ich bekam auch noch etwas anderes in die Hände, das wohl sehr persönlich war: Piet Ouds Militärpass. Ich ließ ihn mir vollständig kopieren.
Ich kannte jetzt seine Augenfarbe, seine Schuhgröße. Ich kannte die Adresse in Overijssel, wohin er Anfang 1914 mit seiner jungen Familie umzog; in ein Haus in prächtiger Lage gegenüber dem Rathaus, wo er als Steuerinspekteur arbeitete.
Bis er, in der Tat, am 30. August – so lautet die Order in seinem Militärpass – als Sergeant des 7. Infanterie-Regiments aufgerufen wurde, sich in der Kaserne von Oranje-Nassau in Amsterdam zu melden.
Über die Amsterdamer Periode konnte ich nicht viel mehr in Erfahrung bringen als das Inventar seiner Ausrüstung. Allerdings sah ich, dass er am 1. Januar 1916 in ein anderes Regiment versetzt wurde, das in Coevorden lag, deutlich näher an seinem Wohnort. Das bedeutete, dass er an dem bewussten 17. Februar 1916, als Annetje ihren ›Willem‹ zur Welt brachte, schon wieder zu Hause in Overijssel war.
Die Affäre mit Annetje kann somit höchstens ein Jahr gedauert haben. Höchstwahrscheinlich hatten Annetje und er einander, als alte Bekannte aus Purmerend, im Herbst 1914 wiedergesehen – vielleicht sogar über Annetjes Bruder Han, der in den Jahren ja auch in Uniform war –, und da war der Funke übergesprungen.
Das Ende des Verhältnisses muss im Sommer 1915 gekommen sein – der Zeitpunkt des Gartenfotos –, als Annetje ›krank‹ nach Arnheim geflüchtet war.
In diesem Sommer war Piet noch in Amsterdam. Er muss von Annetjes ›Krankheit‹ gewusst haben. Auch von der Schwangerschaft? Der misslungenen Niederkunft im Februar?
Was für ein Mensch war Piet Oud, dass er so etwas zulassen konnte?
Ich forderte Ouds Fotomappe an und ließ sein Leben an mir vorbeiziehen wie einen Film. Ich erschrak, als ich das Porträt erkannte, das ich in Oma Annetjes Pass gefunden hatte, auf der Rückseite Ort und Jahr:
Amsterdam, 1914.
Das muss er Annetje in dem Jahr geschenkt haben, als sie ihr Verhältnis begonnen hatten.
Ich sah Piet Ouds Frau in allerlei Stadien; manchmal hatte sie sogar Ähnlichkeit mit Annetje, fand ich, ihr Gesicht ebenso zart und spitz – obwohl sie kleiner und blond war und weniger feurig dreinblickte.
Und doch. Jetzt, da ich Piet Oud hatte sprechen sehen, als Parlamentsabgeordneter, als Staatsminister; jetzt, da ich ihn auf Eröffnungen gesehen hatte, bei Grundsteinlegungen, Verleihungen, Diners und Staatsbesuchen im Ausland; jetzt, da ich den Staatsmann im vollen Ornat sah, hatte ich beinahe Angst, weiter in die Richtung zu denken, in die ich nun einmal dachte. Manchmal hatte ich das Gefühl, er stehe hinter mir und blicke mir über die Schulter. Wenn ich in seinem Militärpass herumschnüffelte, sah ich seinen gestrengen Zeigefinger, hörte ich die mahnende Stimme der alten Polygoon-Wochenschau: Was mischst du dich da ein? Lass doch die Toten ruhen.
Ich ertappte mich sogar bei dem Gedanken, dass Oma Annetje das Porträt möglicherweise auch vom alten Oud bekommen hatte – später, als sie schon bei ihm wohnte. Aber auch dann blieb die Frage, warum sie es aufgehoben hatte, und dann auch noch in ihrem Pass. Zusammen mit diesem Geburtsschein.
Und warum sollte ich Piet Oud eigentlich noch den Vorteil des Zweifels gönnen? Wenn er wirklich Oma Annetjes große Liebe gewesen war, dann konnte ich mir schon das eine oder andere vorstellen. Jedenfalls erschien er mir als erheblich plausiblerer Vater für Annetjes Bastardkind als der alte H. C.
Das Fotomaterial, die Interviews und die Beschreibungen, die ich zu Gesicht
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