Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
sich zu überlegen, ob sie es richtig verstanden hat.
Am nächsten Tag kommt Piet Oud im Schwesternhausvorbei. Sie haben sich locker im Konversationssaal verabredet.
»Sie hat sich gerade kurz zur Ruhe gelegt«, sagt eine hilfreiche Kollegin – Annetjes Vertraute Baars. »Sie können hier warten. Sie hat heute Abend frei.«
Piet Oud zögert. Will schon wieder gehen. Sieht dann auf dem Lesetisch das schwarze Notizbuch, das sie immer bei sich hat, aber in ihrer Müdigkeit anscheinend hat liegen lassen. Er schlägt es auf, sieht ihr Gekrakel, das Wissen, das sie sich in ihr hübsches Köpfchen eingetrichtert hat. Er schüttelt lächelnd den Kopf, gerührt. Das Büchlein ist beinahe voll. Ganz hinten sind noch ein paar Blätter frei. Er schreibt seine impulsive Einladung hinein.
Hallo meine Liederjänin, kommst du heute Abend um halb neun mal vorbei? P.
Sogleich bereut er es. Er hat sich kompromittiert. Er ist ein verheirateter Mann. Er macht sich lächerlich.
Vielleicht kommt sie ja gar nicht.
Und falls sie doch kommt?
Sie kommt, um halb neun, zu seiner Bude.
Warum soll Leidenschaft damals anders gewesen sein als heute? So muss es sich abgespielt haben.
Zunächst scheut sie sich noch – körperlich ist er für sie noch gar nicht gegenwärtig. Aber als der Gedanke an seinen Körper dann doch kommt, vorerst nur neugierig, keusch, ist sie von seiner Stimme schon längst verführt.
Die gemeinsamen Mahlzeiten. Der rituelle Genuss von Speise und Trank: Dieser Wein ist mein Blut. Dieses Brot ist mein Leib. Nach so einer Mahlzeit der erste Kuss. Nach so einem Kuss, das Wort, das zu Fleisch wird.
Augen. Nase. Lippen. Die feinen Linien um seinen Mund.
»Du bist ein offenes Buch«, sagt er.
Auch in seinem Buch darf sie einige Kapitel lesen. Aber in der Liebe heißt es: alles oder nichts.
Wie riskant das ist, und wie schrecklich. Es geht über die Grenzen des Verstandes.
Die warme Nacht, und draußen der sanfte Regen.
Verliebtheit ist eine Krankheit, die vorübergeht. Eine Schwangerschaft, die Ernüchterung gebärt, mit einer Tragezeit von neun Monaten.
»Das hier«, sagt er, »ist das Verliebtheit?«
Sie sagt: »Nur Verliebtheit reicht hierfür nicht.«
Er will sie nicht gebrauchen, diese beladenen Worte wie Mätresse, Affäre. Aber Körper sprechen ihre eigene Sprache. Hingabe kommt ohne Worte aus.
»Wir sind Geliebte«, sagt sie. »Auch wenn wir es nie mehr tun, werden wir für immer Geliebte bleiben.«
Er sagt, mit ihr schlafe er besser als allein. Und nachts träume er immer, dass sie zu ihm kommt, um ihn noch einmal und noch einmal zu verführen.
Wie gerne würde Annetje sie nachholen wollen, all die Nächte, in denen er nicht so geliebt wurde. Nur der Stärkste kann Leidenschaft ertragen, und das ist derjenige, der verliert. Aber vorläufig sind für sie die ineinander übergehenden Zimmer auf der anderen Seite des Vondelparks der Vorhof zum Himmel. Der Garten, wo sie vor fremden Blicken geschützt sind, wo der späte Sommer, der frühe Herbst, die Passionsblumen blühen, ist das Paradies.
Worüber reden sie, die Geliebten?
Über ihre Familie, über Bekannte? Über Aletta Jacobs, vielleicht, die Frauenrechtlerin. Piet Oud hat sie persönlich kennengelernt. Annetje, die sich übrigens nur mäßig für Politik interessiert, hat im
Monatsblatt für Krankenpflege
über sie gelesen. Die geniale Ärztin, die für das Frauenwahlrecht auf die Barrikaden ging, ist im Konversationssaal
das
Gesprächsthema.
Für das Frauenwahlrecht, das Annetje leidenschaftlich befürwortet, ist seiner Meinung nach die Zeit noch nicht reif.Exzesse wie die, zu denen sich die englischen Suffragetten hinreißen ließen, verurteilt er kategorisch.
Sie müssen über den Krieg geredet haben. Annetje hat belgische Flüchtlinge im Saal, Opfer der Spanischen Grippe, Frauen, deren Männer an der Front sind, die mittellos mit ihren Kindern zurückgeblieben sind. Was soll aus den Kindern werden, wenn jetzt auch die Mutter ausfällt? Die Mütter wollen nach Hause, bevor sie wieder gesund sind, erzählt Annetje, mit allen Folgen für ihre Gesundheit.
Piet Oud wird sich für solche Geschichten interessiert haben; die soziale Frage liegt ihm am Herzen.
Es wird auch Themen gegeben haben, über die sie nicht redeten. Annetje wird sich, als erfahrene Pflegerin, so ihre eigenen Gedanken über Schwangerschaftsverhütung gemacht haben. Doch die Knaus-Ogino-Methode sollte erst in den dreißiger Jahren erfunden werden. »Aufpassen« lautet
Weitere Kostenlose Bücher