Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Schwestern. Ihre Oberschwester, die ihr so nahestand, ist an diesem Tag nicht da. Sie packt ihre Sachen in ihren Kabinenkoffer und lässt sich von Bruder Han nach Arnheim bringen.
Bei Piet wächst mittlerweile die Panik. Er hat auf ihren zweiten flehenden Brief nicht reagiert: Ich bin dann und dannin Amsterdam. Komm, lass uns reden. Nein! Wenn er jetzt mit ihr gesehen wird, könnte es das Ende seiner Ehe sein, vielleicht seiner Karriere. Gerade jetzt, wo sich ihm seine Zukunft auftut.
Es gibt nur
eine
Person, die vielleicht etwas tun kann.
Piet Oud reist nach Purmerend. Er geht unauffällig in das Geschäft seines Vaters. Nachbarn stehen da und suchen sich ihre Zigarren aus. Oben auf der Treppe steht seine Mutter, im Gespräch mit einem Bekannten, die Kaffeekanne im Anschlag, sprachlos, dass er so unangekündigt aus dem Nichts erscheint. »Ich muss Papa sprechen. Es ist dringend.«
Er trifft sich mit seinem Vater allein in dessen Büro.
Wie wird der Alte reagiert haben? Wie konntest du nur so
dumm
sein?
Wo hast du denn deinen Verstand gelassen? Ist dir nicht klar, dass dies deine Zukunft zerstören kann?
Und du denkst, dass du Chancen hast, ins Parlament gewählt zu werden, mit so einem Skandal am Bein?
H. C. Oud sagt nichts von alldem. Er schweigt. Stellt dann eine einzige Frage.
»Weiß Jo Bescheid?«
»Nein. Noch nicht.«
Oud nickt. Er hat Piet den Rücken zugekehrt. Er blickt aus dem Fenster, doch ohne zu sehen, was sich unten abspielt. Er ist ein gewiefter Geschäftsmann. Es dauert nicht lange, bis er sich zu seinem Sohn umdreht.
»Ich bezahle professionelle Hilfe für sie. Die beste. Wir packen sie in Watte.«
Sohn Piet schüttelt den Kopf. »Sie hat es schon zweimal versucht. Sie hatte Blutungen; sie dachte, es wäre weg. Anscheinend ist es misslungen. Sie traut sich nicht, es noch mal zu probieren, es wäre ihr Tod, schreibt sie. Sie weiß sich keinen Rat, und sie will …«
»Im wievielten Monat ist sie?«
»Ich weiß nicht – im zweiten, hat sie geschrieben, aber das ist auch schon wieder …«
»Das ist noch zu machen.«
»Papa, es ist schlimmer. Sie will es behalten. Sie will, dass ich Jo verlasse und
sie
heirate.«
»Junge, das kostet dich deinen Kopf.«
»Ich weiß, Papa, ich weiß.«
»Sie muss es wegmachen lassen.«
»Selbst dann. Was ist, wenn sie plaudert?«
Die Männer schweigen. Das späte Licht fällt schräg über Ouds Schreibtisch. Dort stehen die drei Porträts seiner Söhne. Das größte ist von Piet, dem Ältesten, seinem Lieblingssohn. Der alte Oud dreht sich zu ihm um.
»Du sorgst dafür, dass du aus Amsterdam verschwindest. Kein Kontakt mehr. Keinerlei Kontakt mehr, verstanden? Du lässt dich versetzen. Geh wieder zu Jo. Schweige. Ich lade sie hierher ein. Das Kind muss weg. Und sollte etwas rauskommen, dann nehme ich es auf meine Kappe.«
Das Kapitel ›Willem‹
Annetje liegt in dem bequemen Lehnstuhl. Vera sitzt hinter ihrem Teeservice. Jacob steht hinter seiner Frau, neben dem kleinen Jan, der schon sechs ist. Rob, kaum ein Jahr alt, steht in seinem Laufstall auf dem Rasen. Der befreundete Nachbar, der das Foto machen soll, sagt: »Lächeln!«
Annetje lächelt. Sie sieht blühend aus. Ihre Wangen sind rund, ihre Augen strahlen.
Sie hat eine Nachricht erhalten, nicht von Piet Oud, sondern von seinem Vater, der sie nach Purmerend bittet. Das ist es, worauf sie gehofft hat.
Schon am nächsten Tag reist sie nach Purmerend. Sie geht durch den Zigarrenladen nach hinten, wo Frau Oud, die von nichts weiß, sie fröhlich begrüßt.
Oud erwartet sie oben in seinem Büro. Diesmal macht er keine freche Bemerkung, kneift sie nicht in die Wange. Seine Miene ist angespannt und streng. Aber sie sieht, dass seine Augen feucht sind. Er betrachtet sie lange. Sie ist schlanker geworden, und schöner, seit er sie das letzte Mal gesehen hat: Sie strahlt etwas aus. Von ihrem Zustand ist unter dem wallenden Sommerkleid auf den ersten Blick nichts zu sehen.
Er schließt die Tür, ehe er sich zu ihr umwendet.
»Ihnen ist klar, dass dieser Scherz meinen Sohn die Karriere kosten kann?«
Annetje ist wie versteinert.
»Welcher Scherz?« Ihre schwarzen Augen lodern feurig, und diesmal ist nichts gespielt.
»Es geht um Piets Zukunft. Ist Ihnen klar, was für ihn auf dem Spiel steht?«
»Und meine Zukunft?«, sagt sie leise, mit rauer Stimme. »Bedeutet die nichts?«
Das verschlägt dem alten Oud kurz die Sprache. Damit hat er nicht gerechnet. Sie stehen sich
Weitere Kostenlose Bücher