Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
direkt gegenüber. Sie trägt hohe Absätze. Er blickt zu ihr auf. Er spürt ihre Wut und dass sie berechtigt ist. Sie war nicht nur Piet verfallen – Piet auch ihr. Und er, H. C., kann sich das nur allzu gut vorstellen.
Mit einer förmlichen Geste weist er ihr einen Stuhl. Sie wendet sich, den Blick noch auf ihn gerichtet, langsam von ihm ab. Dann nimmt sie behutsam Platz, wobei sie ihren schwangeren Zustand nicht verhehlt. Sie sitzen sich schweigend gegenüber, in diesem Büro, wo sonst so wenig geschwiegen wird. Sie nimmt Maß von der Wirkung, die sie auf ihn hat, und wartet ab.
Auf seinem Schreibtisch prangen die Bilder von seiner Frau, seinen drei Söhnen. Er hat alles, sie nichts. Es bedarf keiner Worte. Das Schweigen ist nicht einmal beklemmend. Es wird mit diesem Schweigen alles gesagt, was es zu sagen gibt. Nach etwa einer Minute lässt Annetje den Kopf in die Hände sinken und bricht in Schluchzen aus. Er sieht die Tränen über ihre Hände rinnen. Sie ist ohne Arbeit, ohne Einkommen – und klammert sich immer noch verzweifelt an ihre Hoffnung. Die muss er ihr erst einmal austreiben.
»Das geht nicht«, sagt er. »Was Sie wollen, das geht wirklich nicht. Ich kenne die Wünsche meines Sohnes.«
Sie schweigt.
»Ich möchte Ihnen helfen«, sagt er. »Ich sorge dafür, dass Sie da durchkommen. Und zwar gut. Aber unter drei Bedingungen.«
Sie sieht nicht auf. Sie hat unendlich viel Zeit.
»Erstens. Das Kind muss weg. Zweitens: Ihr seht euch nicht mehr. Ist Ihnen das klar. Nie mehr. Sie tun so, als würden Sie ihn nicht kennen. Drittens: Sie schweigen. Jetzt bis in alle Ewigkeit.«
Sie hebt den Blick. Sie sehen sich an. Sie sagt: »Das kommt darauf an, ob es möglich ist.«
Das Luder, sieht sie ihn denken. Doch ist eine Spur von Bewunderung in seinem Blick.
»Ich biete Ihnen tausend Gulden.«
Sie überlegt. In ihrem Kopf brodelt es, aber sie muss sich gelassen geben. Tausend Gulden. Tausend, für das Leben ihres Kindes. Das ist viel. Aber ist es genug?
Nichts ist genug. Keine Million. Sie zwingt sich, ruhig zu bleiben. Sie muss praktisch sein. Sie wird vorläufig ein Auskommen haben, und mehr als das. Sie wird nach ihrem Diplom eine eigene Praxis eröffnen können.
Sie sieht ihn fest an. »Zwölfhundert.«
Ihre Blicke saugen sich aneinander fest.
»Einverstanden. Aber dann kommt was dazu. Sollte jemals etwas herauskommen, dann war
ich
der Vater, nicht er. Sollte es nötig sein, einen Namen zu nennen.«
Annetje reißt die Augen auf. Und nickt.
Der offizielle Teil des Gesprächs ist vorüber. H. C. Oud geleitet Annetje nach draußen. Er bietet ihr, höflich mit ihr plaudernd, den Arm und begleitet sie bis zum Koemarkt. Dort schlägt er vor, noch etwas zu trinken, in dem Café um die Ecke. Sie stimmt zu, ihr Zug fährt ja noch nicht. Sie trinken etwas, begrüßen alte Bekannte.
Beim Abschied sagt er es noch einmal. Sie muss schwören zu schweigen, zu schweigen, zu schweigen.
»Aber Vera weiß alles.«
»Dann muss Vera auch schweigen.«
Annetje schwört es.
Auf dem Rückweg spürt sie, wie ihr Kind sich bewegt. Sie legt die Hand auf die Rundung unter ihrem Kleid, die nur für den sichtbar ist, der es weiß.
In Arnheim hat sie Vera dann alles erzählt. Es wird beratschlagt, im Garten, beim Tee, wenn Jacob in der Fabrik ist. Nach dem Essen, wenn die Jungen draußen spielen und Jacob noch mal kurz in die Fabrik geht.
Schließlich wird Jacob auch eingeweiht.
Stimmte meine Rekonstruktion, dann war nur eine Schlussfolgerung möglich: Hatte ›Willem‹ bei der Geburt gelebt, dann lebte er immer noch, dann war er alt geworden, unter einem anderen Namen: Piet. Dem Namen seines biologischen Vaters.
Ich eilte zu Tante Tini nach Arnheim und bat sie um Fotos. Ich blätterte in einem Album, das Onkel Rob über seine Jugend dort angelegt hatte. Es gab nur einen Schnappschuss aus dem bewussten Jahr.
Oktober 1915.
Veras ältere Söhne Jan und Rob stehen mit etwas entgeisterten Blicken da, Hand in Hand. Es war einen Monat vor der Geburt ihres Brüderchens Piet. Die Unterschrift lautete:
Wann kommt Mutter endlich zurück?
»Wo kann Vera gewesen ein?«, lautete meine Frage an Tante Tini.
»Vera war damals ernstlich krank«, sagte sie, »in den Monaten vor Piets Geburt. Es war irgendwas mit den Nieren, oder war das bei Rob?«
Tante Tini blieb vage. Und Onkel Rob wollte über alles reden, außer über die Vergangenheit. Er sah durchscheinend bleich aus. Sein Ende nahte.
Aber, dachte ich –
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