Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
noch die Devise.
Das tun sie. Es geht gut. Es geht noch einmal gut. Es geht ständig gut. Dann, im Zustand der Verzückung, in dem sich beide befinden an diesem prächtigen, fatalen Abend im frühen Frühjahr 1915, sind sie ein klein wenig übermütig.
Es wird April. Annetje ist spät dran mit ihren Tagen. Sie sind öfter unregelmäßig. Jetzt, mit der Spannung, der Verliebtheit, ist da natürlich irgendwas durcheinandergeraten.
Die Geliebten sehen sich wie üblich, lieben sich wie üblich. Annetje sagt nichts. Dann ist es nicht mehr zu übersehen. Sie ruft ihre Freundin Baars zu Hilfe. Sie versuchen, die Frucht abzutreiben mit Seifenschaum und Ballonspritze. Sie verliert einiges Blut. Sie meldet sich krank. Sie flüchtet nach Arnheim, zu Vera. Sie fühlt sich fiebrig, fröstelt. Aus Arnheim schickt sie ihrem Geliebten die Mitteilung, dass sie krank sei, überanstrengt. Sie bleibt in Arnheim und wartet ab.
Der dritte Monat bricht an. Es wird Mitte Mai, aber die Tage bleiben aus. Sie beißt die Zähne zusammen. Sie unternimmtnoch einen Versuch, diesmal mit Seifenlauge und Stricknadel. Sie verliert wieder Blut, jetzt noch viel mehr. Sie bekommt kalte Schauer, Durchfall, hohes Fieber. Ihre Haut fühlt sich warm und trocken an, dann wieder ist sie bleich, klamm und kalt. Sie hat Schmerzen, aber es hat wenigstens geklappt, denken die Schwestern.
Nach einer Woche geht es Annetje besser. Sie fühlt sich bestens, sogar besser als je zuvor, und so erleichtert. Ihre Karriere gerettet, die Liebe auch. Soviel lässt sich jedenfalls aus ihrem munteren Brief vom 2. Juni 1915 schließen, der an den Direktor des Wilhelmina-Hospitals gerichtet ist.
So verläuft es öfter, ist in gynäkologischen Studien nachzulesen.
Der vierte Monat ist angebrochen. Bruder Han hat Piet Oud wissen lassen, dass es Annetje besser geht, dass sie bald ihre Arbeit wieder aufnehmen wird. Aber zur Bestürzung der Schwestern ist die Periode ein weiteres Mal ausgeblieben. Annetje weiß sich keinen Rat. Das Gefühl in ihrem Bauch, die Übelkeit, die sie den Nachwehen des Eingriffs zugeschrieben hat; jetzt ist sie klüger.
Vera hat sich nach professionellen Engelmachern erkundigt. Sie hat einen aufgetan, der als absolut vertrauenswürdig gilt. Annetje zögert, einen Termin zu machen. Sie meint schon fühlen zu können, wie sich das Kind bewegt. Es ist ein Kind der Liebe. Alles kommt so, wie es kommen muss, ist immer ihre Devise gewesen. Der Gedanke, es jetzt noch wegmachen zu lassen, ist ihr unerträglich.
Während sie nächtens schlaflos in ihrem Bett liegt, bestimmt sie den Kurs. Es ist ein hoher Einsatz. Aber wer nicht alles wagt, der gewinnt auch nicht.
Er
wird sich für sie entscheiden. Sie lieben sich, haben sie sich doch des Nachts zugeflüstert. Das eine Kind gegen das andere. Sie wagt es, das Duell mit der Ehefrau.
Zumindest nachts wagt sie es. Im hellen Morgenlicht ist ihrÜbermut verflogen, und ihr ist bang ums Herz. Es ist ein Duell auf Leben und Tod. Das Kind ist ihr höchster Trumpf, der Einsatz der Rest ihres Lebens. Sie schreibt Piet Oud einen Brief.
Piet schreibt nicht zurück. Jedes geschriebene Zeichen von ihm kann, wenn sie ihm Böses will, ja ein Beweis sein, ein
corpus delicti
. Daraus kann man ihm einen Strick drehen.
Annetje wartet. Kein Wort des Mitleids. Kein Wort, auf dessen Grundlage sie einen Entschluss fassen kann. Kein Wort, das besänftigt oder erklärt. Noch schlimmer ist es, auf seinen Körper, auf seine Berührung verzichten zu müssen. Phantomschmerzen.
Sie weiß, dass sie ohne schnelles Handeln ihr Wochenpflegerin-Diplom in den Wind schreiben kann. Das Hospital hat keinen Platz für unverheiratete Mütter.
Zuallererst muss sie ihre Zukunft retten.
Sie bittet um eine Unterredung mit Direktor Kuipers. Sie ist im vierten Monat. Unter dem lockeren, sachte fallenden Kleid ist wenig davon zu sehen. Im Übrigen kann sie sich auf ihr Schauspieltalent verlassen.
Es bereitet ihr keine große Mühe, Doktor Kuipers zu überzeugen, dass sie stark überarbeitet ist. Doch jetzt, da ihre zweimal sechs Wochen Krankenurlaub verstrichen sind – das Maximum, um im Dienst bleiben zu können –, wird sie unwiderruflich entlassen. Doktor Kuipers rät ihr, sich zu melden, sowie sie sich wieder erholt hat. Da es nie Beschwerden über sie gegeben hat, ist er bereit zu versprechen, dass sie auch nach dieser langen Abwesenheit noch im laufenden Lehrjahr ihre Ausbildung abschließen kann.
Annetje nimmt Abschied von den anderen
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