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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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Annetjes Pass gefunden, trägt als Datum den 17.   Februar 1916.   Bei genauerer Betrachtung scheint er in Annetjes eigener Handschrift ausgefülltzu sein. Dabei hat sich Annetje, wie aus der Akte hervorgeht, im gesamten Jahr 1916 keinen einzigen Tag krank gemeldet.
    Wenn es also tatsächlich einen Sohn ›Willem‹ gegeben hat, tot oder lebendig, dann muss er im Jahr davor geboren worden sein. 1915.
    Das Datum erzählt die Wahrheit – außer wenn es nicht stimmt.
    Am Freitag, den 23.   April 1915, besuchte Annetje eine Soirée Musicale, die von der Vereinigung
Wer rastet, der rostet
organisiert wurde. Geboten werden Auftritte eines Fräuleins Rie Kraan, Altistin, eines Terzetts, bestehend aus Fräulein Annie de Jonge, den Herren F.   Hoefman und S.   Spijer, und als Begleiterin Fräulein H.   Robert. Sollte Annetje dieses Programm wirklich ihr ganzes Leben lang aufgehoben haben, weil der Auftritt einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte oder vielleicht wegen ihres Begleiters an diesem Abend?
    Wenn Annetjes Krankheitswochen die Folge einer Schwangerschaft waren – in der Tat eine besondere Form der ›Menstruationsstörung‹   –, muss sie bei ihrer ersten Krankmeldung, am 30.   April 1915, etwa im zweiten Monat gewesen sein. Dann wäre sie Mitte Februar schwanger geworden.
    Ein kleines Gedicht auf einem vergilbten Blatt, dem Anschein nach irgendwo abgeschrieben, dürfte aus dem frühen Frühjahr 1915 stammen:
    Der Frühling kommt, die Liebe naht!
    Liebe und Frühling sind schon da.
    Zeigen sich in wechselhaftem Reigen
    und finden’s ein vergänglich Spiel,
    Aber wo der Frühling drängt, dort weilt
    die Liebe auch. Ein neuer Frühling,
    und immerfort derselbe Klang.
     
    Oh, Frühling, weißer Frühling, der so
    weich, so rein uns stimmt,
    der das Blut in Wallung bringt und das Verlangen,
    das, wird es auch gestillt, erneut aufschwillt,
    emporschießt, wie durch Zauber, wunderbar –
     
    Annetje hat offensichtlich einen Geliebten. Den alten Oud, so wollen die Buchstaben H.   C. auf dem bewussten Geburtsschein uns glauben machen.
    Doch der alte Oud war 1915 schon ein korpulenter, verheirateter Mann von vierundfünfzig, der dazu noch weit entfernt in Purmerend wohnte. Was hätte Annetje in diesen Jahren dort noch zu suchen gehabt? Vera wohnte schon seit langem in Arnheim, ihre Schwester Jopie war nach ihrer Hochzeit ebenfalls dorthin gezogen, und die Eltern Beets, wie auch diverse Brüder und ihre Familien, wohnten jetzt in Den Haag.
    Dabei zeigt uns das ovale offizielle Porträt von Annetje, das aus diesen Jahren datieren muss und das immer über ihrem Frisiertisch gehangen hatte, eine vollkommene Schönheit. Annetje dürfte an der Männerfront auf Höheres abgezielt haben als auf diesen alten, beleibten, verheirateten Mann. Und sie war dabei gewiss auch nicht untätig.
    Welche Männer kann Annetje in diesen Jahren gekannt haben?
    Es musste Patienten gegeben haben, die sich in sie verliebten. Ein kleines Gedicht mit dem Titel
Dunkle Augen – ein Albumblatt
, das wir hier nicht zitieren wollen, weist zum Beispiel in diese Richtung. Annetjes Kommentar auf dem mit zittriger Hand geschriebenen Gedichtblatt:
Meine erste Erfahrung mit einem Tbc-Knaben (19   Jahre) , der mir unter den Händen weggestorben ist. Aus Briefen, die ich später bekam, begriff ich seine linkische Verliebtheit   …
    Das scheint kein plausibler Kandidat.
    Ärzte. Aber die hätten wegen eines Techtelmechtels mitdem Pflegepersonal ihre Karriere verspielen können. Doktor Treub, der gestrenge Professor, von dem ein Porträt in Annetjes Album steckt, paffend an der Zigarre, die er zwischen den Operationen gern zu genießen pflegte, dürfte ganz besonders auf der Hut gewesen sein. Gerade in jener Zeit ereignete sich der Skandal um seinen Bruder, den Politiker Prof. Dr.   M.   W.   F.   Treub, der Anfang 1916 zurücktreten musste wegen, unter anderem, seines außerehelichen Verhältnisses mit einer »noch nicht geschiedenen« Geliebten.
    Es gibt nur
einen
konkreten Hinweis auf die Identität von Annetjes Geliebtem. Eine einzige Zeile, hinten in ihrem schwarzen Notizbuch
Lehrgang 1914
, geschrieben in einer energischen Männerhandschrift:
Hallo meine Liederjänin, kommst du heute Abend um halb neun mal vorbei? P.
    Sehr viele P.s kann es in jenen Jahren nicht in Annetjes Leben gegeben haben. In dem Geburtstagsbuch, das sie, der Widmung nach zu schließen, 1912 von ihrer Kollegin Baars geschenkt bekommen hat, kommt nur ein

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