Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Hinsicht ein Ausweg sein.
Am 10. Juli 1919 kommt der alte Oud schließlich nach Arnheim. Er wird mit offenen Armen empfangen – Veras Gastfreundlichkeit ist sprichwörtlich, und jetzt zieht sie alle Register.
Annetje lässt sich noch nicht blicken, sie hat sich hinter der Tür des Vestibüls vesteckt. Das Herz klopft ihr bis zum Hals. Sie hört, wie der alte Oud ihren Schwager begrüßt, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie hört ihn Veras Ältesten loben. Von der Türöffnung aus sieht sie, wie er auf den dritten Sohn zugeht, den kleinen Piet. Er hält im Schritt inne. Er guckt überrascht. Noch ein Sohn? Noch so jung? Wie alt ist er, fragt er. Vier Jahre? Annetje sieht ihn denken: also 1915 geboren – dem Jahr von Annetjes Schwangerschaft. Von einer Schwangerschaft ihrer Schwester hatte sie nichts erzählt.
Der alte Oud ist nicht dumm. Der Junge sieht Vera nicht ähnlich. Und Jacob schon gar nicht. Er ist Annetje wie aus dem Gesicht geschnitten. Gott sei Dank nicht seinem ältesten Sohn.
Der alte Oud setzt sich, perplex.
Vera hebt den Kleinen hoch, setzt ihn seinem Großvater auf den Schoß, und da sitzt H. C. Oud – sprachlos. Er hat seinen Enkel auf dem Arm. Und er ist nicht aus Stein.
Erst als Annetje von der Türöffnung aus seine Verwirrung bemerkt, als sie sieht, wie sein Mund zittert, ihm Tränen in die Augen schießen, macht sie ihr Entree in das Zimmer, bleich, ernst, mit schwarzen Augen. Sie gibt ihm Zeit, sich zu fassen.
Dann geht sie auf ihn zu und fällt ihm um den Hals. H. C. Oud schmilzt. Er gibt nach. Die Schwestern können aufatmen. Zwei Tage nach seinem Besuch, am 12. Juli, schreibt H. C. Oud an Annetje:
Zustand meiner Frau traurig. Möchte auch Schwester Vera noch einmal danken – die Woche hat mir ordentlich gut getan – sie istja auch so herzlich, genau wie unsere liebe Ann. Ich hoffe, irgendwann eine Entschädigung leisten zu können für ihre großherzige Gastfreundlichkeit.
Die ›Entschädigung‹ für Veras Gastfreundlichkeit fällt ausnehmend großzügig aus. Das Jahr 1919 läutet für Veras Familie und Jacobs Fabrik eine glückliche Periode ein. Sogar so sehr, dass es Befremden bei Frau Kleijmans, der jungen Wöchnerin weckt, auf der anderen Seite vom Sonsbeek-Park. Sie schreibt im Oktober an Annetje, als diese schon längst bei Oud im Middenweg ist:
Es war schon eine große Enttäuschung für uns, dass Du am Sonntag nicht kamst, obgleich wir uns auch gesorgt haben, als es gleich am Morgen so heftig zu regnen begann. Es ist ja auch eine beschwerliche Reise, von De Meer zu uns zu kommen. Böse waren wir natürlich nicht, dass wir Dich so lange nicht gesehen haben, es war bloß einfach nicht schön. Und jetzt mit Vera. Von böse sein ist auch hier keine Rede. Ich hatte nur das höchst unangenehme Gefühl, dass ich mich ihnen zu sehr aufdrängte. Als ich im September wieder zu Hause war, sollte Vera am Sonnabendnachmittag kommen. Jacob kam dann an ihrer Stelle, um zu sagen, dass Vera unpässlich sei und nicht kommen könne. Ich eilte in der Meinung, sie im Bett vorzufinden, zu ihr und fand statt einer Kranken eine festlich gekleidete Vera, die gerade mit Gästen dinierte. Ich machte mich natürlich völlig unmöglich und war ziemlich wütend. (…)
Der Höhenflug, den Veras Wohlstand und Haushalt genommen haben, schüchtern mich ein bisschen ein. Aber von böse sein keine Rede! Bitte beruhige Vera vollkommen in diesem Punkt. Wie bedauerlich für die Frau Oud, dass es sich bei ihr nicht bessert. Richte vor allem unsere herzlichen Grüße an Herrn Oud aus.
Frau Ouds Zustand bessert sich in der Tat nicht. Nach einem langen Aufenthalt in der Valeriusklinik wird sie Ende 1919 in die psychiatrische Klinik Meerenberg in Santpoort verlegt. Vera, die inzwischen mehrmals im Middenweg Hausgast gewesen ist und in Meerenberg ihr Diplom, das schwarze Kreuz, gemacht hat, wird vielleicht zu dieser Lösung gedrängt haben.
Neeltje Oud sollte bis zu ihrem Tod in der Klinik bleiben.
Ihre Enkelin Diny erinnert sich, dass sie ihre Oma dort als kleines Mädchen noch mit ihren Eltern besucht hat. »Die ersten beiden Jahre sprach sie kein Wort. Danach ging es wieder etwas bergauf. Sie nahm ihre Handarbeit auf, fing wieder an zu sprechen. Sie hatte ein sonniges, geräumiges Zimmer. Ich denke, sie hatte es da wirklich gut. Sie hatte ihre Mitpatientinnen und genoss die Familienbesuche. Sie ist nie mehr nach Hause gekommen. Nicht zum Middenweg, nein
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