Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
– und schon gar nicht zum Overtoom.« Annetje schien noch ein paar Briefe von Frau Oud aufgehoben zu haben, in denen diese ihr für die Geburtstagsgeschenke und verschiedene Aufmerksamkeiten dankte: Strickgarn, ein
Gedicht von einem Kleid
, Wollknäuel, um die sie gebeten hatte.
Mit der Verlegung der Kranken nach Meerenberg im Herbst 1919 war Annetjes Rolle als Pflegerin im Hause Oud streng genommen zu Ende. Aber sie übernahm bald eine neue Aufgabe: die einer Haushälterin.
Sie hatte sich schon daran gewöhnt. Bei Kosters Buchhandel in der Linnaeusstraat kaufte sie ein kartoniertes Schreibheft. Dort notierte sie Haushaltstipps: für das Säubern von Marmor (
mit warmem Salatöl
), das Entfernen von Kerzenwachs (
mit Löschpapier und einem erhitzten Messer, geht schneller als mit dem Bügeleisen!
) und von Rostflecken (
Reinigungssalz mit Wasser, oder erst reinen Alkohol, dann Zitronensäure, nach 10 Min. mit klarem Wasser spülen
). Außerdem Rezepte für luxuriöse Desserts wie Schokoladentrüffel und Marrons Glacés.
Es steht auch ein Gedicht darin, das sie aufgeschrieben haben muss und das wenig Zweifel an ihrem Gemütszustand zulässt:
Lied vom Verlangen
Der Tag, da wir zuletzt uns sahen
Und ich mein bittres Exil begann,
fühlt ich beim kühlen Abschiednehmen
Dass ich Dich nicht vergessen kann.
Dort bat ich: Denk nicht mehr an mich,
Tu, als hätt’s mich nie gegeben,
Weil ich begriff: Es kränkt Dein’ Stolz,
Zum Gruß auch nur die Hand zu heben.
Als Fremde sind wir dann geschieden,
Den Mund in Förmlichkeit gehüllt.
So blieb für alle Ewigkeit
Das Lied der Liebe unerfüllt …
Nun tastet, schwankender als je zuvor,
Im dunklen Labyrinth des Lebens meine Hand.
So manchem ging die Seel’ verloren
Weil sie – allein – das Ziel nicht fand.
Oft lieg’ ich schlaflos in der Nacht,
Verstummt sind alle Laute um mich her,
Ich warte sehnsuchtsvoll auf Dich, Geliebter,
Und weiß ich doch, Du kommst nie mehr.
Der Overtoom in Amsterdam
Piet Oud dürfte kaum vorausgesehen haben, dass Annetje, nach ihrer Rückkehr als Pflegerin seiner Mutter, für das restliche Leben seines Vaters dessen Geliebte und Hausgenossin sein würde. Er dürfte anfangs nicht allzu begierig gewesen sein, seinen Vater aufzusuchen:
Als Fremde sind wir dann geschieden.
Es muss zu einer Abkühlung gekommen sein zwischen den früheren Geliebten, aber seit wann, wie lange, aus welchen Gründen, das lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Am Anfang – so stellte ich es mir vor – konnte Piet die Besuche bei seinem Vater noch eine Zeit lang so legen, dass Annetje gerade nicht da war, sondern bei Vera. Zu Nikolaus und Weihnachten 1919, zum Beispiel, wurde sie dort, beladen mit Päckchen, wie eine Göttin empfangen, das belegen diverse Dankesbezeugungen.
Auch zu Pfingsten 1920 war Annetje in Arnheim: Ihr Name prangt auf einer Menükarte des ›Pfingstessens 1920 im Hause Vlek‹.
Aber als Annetje Anfang 1920 offiziell mit umgezogen war in Ouds neue Wohnung am Overtoom, muss die Tragweite der Situation auch zu Piet durchgedrungen sein.
Auf die Dauer war eine Konfrontation mit seiner früheren Geliebten nicht mehr zu vermeiden. Die Beziehung dürfte sich allmählich normalisiert haben:
Zum Glück konnten wir das später voneinander begreifen.
Das Strandfoto,
Scheveningen 1920,
zeigt jedenfalls die Exgeliebten zusammen mit ihren nächsten Verwandten. Womöglich war das Piets erste Begegnung mit seinem jüngsten Sohn. Aber ob er schon früher über dessen Existenz Bescheid gewusst hat, und falls ja, seit wann; ob seine Liebe für Annetje teilweise auch wegen dieser Entdeckung abgekühlt war – es bleibt alles Spekulation. Es scheint – erstaunlich genug – beinahe unmöglich, dass er 1919 noch immer ahnungslos war.
Ich besah mir das Strandfoto noch einmal näher. Es musste von Jacob aufgenommen worden sein, denn der fehlt auf dem Bild. Piets Augen sind schwarze Löcher unter dem Schatten seines Sonnenhutes. Seine Schultern hängen herab, seine Hände ruhen resigniert auf seinen Knien. Wenn ich ein Wort finden müsste für diese Körpersprache, dann wäre das ›Niedergeschlagenheit‹.
Defeat
. Er ist inzwischen Parlamentsmitglied. Seine Exgeliebte ist mittlerweilen die Partnerin seines Vaters. Sein kleiner Sohn Piet sitzt eingeklemmt zwischen seinem Vater und dessen Frau. Die Ironie der Situation ist komplett.
Doch sollte in den folgenden Jahren der Overtoom immer mehr das Zentrum des
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