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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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langbeinigen Mädchenpuppen liegen. Ich hab damit, muss ich zu meiner Schande gestehen, noch gespielt. Tja – es gab schon so ein paar Gerüchte in der Familie. Meine selige Mutter, Lous, wusste sicher Bescheid. Und ja, als dann Oma erst mal gestorben war, im Jahr 1932, hat Opa schon mal vorsichtig bei meinem Vater und meinen Onkeln vorgefühlt, ob er jetzt nicht mal Ann heiraten sollte. Mein Onkel Piet hat damals gesagt: Wenn du das tust, dann siehst du mich hier nie wieder.«
    Also hatte Annetje auch am Overtoom ein Doppelleben geführt. Wie bei Vera. Für Vera und die Jungs und für Mary und ihren Bruder war sie die gefeierte, reiche Tante gewesen. Für die Ouds allerdings nicht mehr als eine etwas dubiose Haushälterin, von der einige noch wussten, dass sie in grauer Vorzeit die verstorbene Frau des Hausherrn gepflegt hatte.
    Hans erinnerte sich, dass sein Großvater seine Haushälterin bestimmt nicht immer rücksichtsvoll behandelt hatte. »Er kniff ihr schon mal in den Hintern. Oder er stopfte ihr ein Kerngehäuse in den Ausschnitt.«
    Auch Hans Oud selber war als Knabe richtig scharf auf Annetje gewesen. »Es gab so eine Art stillschweigendes Einverständnis«, sagte er. Und grinste. Ihm fiel etwas ein. »An ihren Brüsten hab ich viel Freude gehabt«, sagte er.
    »Doch nicht im wörtlichen Sinn?«
    »Ja. Doch. Sie hatte so etwas an sich, was sexuelle Bedürfnisse weckte. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren. So als könnte ihr jeden Augenblick ein Hamster aus dem Ärmel gucken.«
    Hans Oud kannte noch die Schwelle an der Tür zum Garten und bemerkte, dass die alte Treppe, wo in den zwanziger Jahren so viele sommerliche Schnappschüsse aufgenommen worden waren, inzwischen durch eine neue ersetzt worden war. Alle waren sie hier fotografiert worden: die drei Söhne der Vleks; Piet Oud, seine Frau und sein Sohn; Mary auf dem Schoß vom alten Oud; Annetje, die ihre dunklen Augen auf die Fotografen richtete: Jo Oud, den alten Oud und ihren ehemaligen Geliebten Piet Oud.
    Die fröhlichen
Roaring Twenties
, wie
roaring
waren sie eigentlich für Annetje und ihre Familie?
    1924 ereignete sich eine Katastrophe. Die Arnheimer Fayencenfabrik, die zum Teil dank Ouds finanzieller Unterstützung zu großer Blüte gelangt war, stand plötzlich vor dem Bankrott. Die letzte Erweiterung, ein neues Ofengebäude, war unverantwortlich gewesen. Annetjes Schwager Jacob, dreiundvierzig Jahre alt, reiste nach London, um einen letzten Rettungsversuch zu unternehmen. Er sollte dort Geschäftsleute treffen, bezog ein Hotelzimmer. Von einem Treffen mit ihnen am 25.   Mai 1924 kehrte er nicht zurück. Am Morgen des nächsten Tages wurde er in der Themse gefunden.
    Sein Schwager, Annetjes Lieblingsbruder Han, der ihn auf der Londonreise begleitet hatte, musste den Leichnam identifizieren, der Polizei Rede und Antwort stehen und die Beerdigung regeln. Das Geld, um die sterblichen Überreste in die Niederlande zu überführen, war anscheinend nicht vorhanden. Jacob Vlek wurde in England bestattet. In Annetjes Papieren befand sich der herzzerreißende Brief, den ihr Bruder Han aus London geschrieben hatte. Die Todesursacheerwähnte er nicht. Doch ein Satz, der mir besonders im Gedächtnis haften geblieben ist, lautete: »Gib auf Vera acht.« Die offizielle Version der Familie behauptet, es wäre ein Raubmord gewesen. Obwohl Jacob doch gerade Geld nicht dabei gehabt hatte. Dass man über die wahren Umstände aber durchaus im Bilde war, ergibt sich aus Lous’ Reaktion auf einen Brief von Annetje, wenige Wochen nach der Tragödie:
     
    Was Du wieder über Vera geschrieben hast – ich finde es schrecklich für sie, dass jetzt alles so zusammenkommt, dass man gar nicht mehr anders kann als mitzuversinken in dem Jammer. Manchmal sieht man alles schon wieder heller, aber von den tatsächlichen Dingen kann man so schwer etwas vertuschen! Es ist furchtbar, und sie ist noch so jung. Es ist schrecklich, dass sie das jetzt alles ertragen muss und dass es so anders hätte sein können. Aber auch darüber darf man kein Urteil fällen – denn was wissen wir über das Elend, das Jacob mitmachte, jetzt, da es so weit mit ihm kam.
     
    ›Jetzt, da es so weit mit ihm kam.‹ Das deutete nicht auf einen Raubmord hin. Jacob hatte anscheinend keinen Ausweg mehr gesehen.
    Er hatte keinerlei Vorkehrungen getroffen für die Familie, die er zurückließ. Vera musste so schnell wie möglich weg aus der Lawick van Pabststraat. Das Haus war zu kostspielig. Sie

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