Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Glück finden mögest, das Du so vollauf verdienst. Es möge Dir Erfüllung und Zufriedenheit schenken.
Oud wünscht seiner ›Ann‹ das Glück, das sie verdiente, aber wie hätte sie seiner teilhaftig werden können, in ihrer Position als Haushälterin dieses Herrn in vorgerücktem Alter? Ihre Chancen, dieses Glück zu verwirklichen, nahmen schließlich Jahr um Jahr ab. Vielleicht hielt er sie bei der Stange, indem er ihr eine Ehe in Aussicht stellte, wenn seine Frau gestorben wäre. In der Zwischenzeit profitierte er von ihr auf allerlei Weise. Nach seinen umständlichen Entschuldigungen zu schließen, war das mit einigen Spannungen einhergegangen.
Es hat sogar den Anschein, als hätte Annetje 1928 einen weiteren Versuch unternommen, Oud zu verlassen, einen, der beinahe drastische Folgen gehabt hätte.
Anfang August 1928 mietete Oud eine Limousine mit Chauffeur für eine gemeinsame Autotour mit Freunden durch die Schweiz, eine Idylle wie aus einem der Romane von Cissy van Marxveldt, die Annetje in jenen Jahren verschlang. Am 14. August landete der Wagen in einer Schlucht – so wird erzählt –, wobei Annetje schwer verletzt wurde. Sie verbrachte ihren vierzigsten Geburtstag in einem Krankenhaus in Interlaken. Ein unscharfer Schnappschuss mit der Unterschrift
Nach einem Unfall in der Schweiz
zeigt,über dem Fußende eines Bettes, einen überbelichteten Blumenstrauß und das Gesicht eines zutiefst erschütterten Oud. Er brachte ihr damals, neben den Blumen, auch einen Geburtstagsbrief mit.
Hotel Helvetia, Interlaken-Unterseen
26. August 1928
Allerliebste Ann!
Wenige Worte müssen ausdrücken, dass ich sehr froh bin, dass wir angesichts der Umstände diesen Tag noch so festlich feiern dürfen. Lebe noch lange und glücklich und bleibe – soweit möglich – auch weiter meine gute sorgende Hausgefährtin. Dieser Tage habe ich Dich so erneut schätzen gelernt. Erst wenn es einem fehlt, spürt man das doppelt. Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich meine, was ich schreibe. Also, Ankie, dann also gemeinsam wieder mit vollem Mut voraus!
Herzliche Glückwünsche von Deinem dankbaren Baas
Das ›Also gemeinsam wieder mit vollem Mut voraus!‹ schien mir auf eine Krise hinzudeuten, die diesem Unglück vorausgegangen war. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch eine Zueignung von Oud von Anfang Oktober desselben Jahres, anlässlich Annetjes beginnender Genesung.
Der lieben Ann zur Rückkehr in die gute Stube
Am 14. August in die Schlucht hinein,
Am 29. August wieder daheim.
Der Doktor macht’ uns allen Mut,
Gab Hoffnung uns, wie tut das gut.
Nun herrscht hier wieder Fröhlichkeit,
Am 6. Oktober von Sorgen befreit.
Der Blumengruß an Dich erhellt
Wie es um Baasens Herz bestellt.
Und jetzt schließ’ ich wie einst Génestet dichtete:
Am 14. August war’s eine Zeit zum Gehen,
Am 29. August die Zeit zum Kommen.
Das könn’ wir aus voller Seel’ verstehen
Und haben’s am 6. Oktober auch gut vernommen.
LASS NUN HURTIG ALLES LEID VERSCHWINDEN
UND DICH IM SONN’SCHEIN WIEDERFINDEN
Das ist der Herzenswunsch von
Deinem Baas
Was genau der alte Oud ›verstanden‹ und ›vernommen‹ hatte, bleibt unklar. Doch die Tatsache, dass weder Oud selber, noch sein Chauffeur, noch die Freunde, noch der Mietwagen bei jenem ›Unglück‹ auch nur im Geringsten Schaden genommen hatten, bestärkte mich in meiner Vermutung, dass Annetje diese Schlucht womöglich aus eigenem Antrieb aufgesucht hatte.
Es brachte mir ein anderes Unglück in Erinnerung, vor vielen Jahren, auf Vosseveld, als Oma Annetje auf ihrem Fahrrad von einem Auto angefahren wurde.
Es war ein paar Jahre nach Großvater Mansborgs Tod. Oma Annetjes Versprechen, sie würde Vosseveld uns überlassen, wurde immer wieder verschoben, wodurch unsere sonntäglichen Familienbesuche immer häufiger von Spannungen und Streitereien beherrscht wurden.
Die Wirren schleppten sich fort, bis Ende 1957 das Schicksal zuschlug. Niemand wusste, ob es an den Problemen lag, derentwegen Oma Annetje geistesabwesend und unaufmerksam geworden war, oder an der Glätte auf der Straße (es hatte geregnet). Fest steht, dass sie an einem dunklen Dezembermorgen mit ihrem Rad auf dem Weg ins Dorf war, um Nikolauseinkäufe zu machen – ein rührendes Detail, das mir immer im Gedächtnis geblieben ist. Beim Überqueren desAmerfoortseweg wurde sie auf ihrem Fahrrad von einem Auto erfasst.
Mein Vater Lepel, der
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