Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
umgehend von einem aufmerksamen Tankwart benachrichtigt wurde, war noch vor dem Krankenwagen zur Stelle.
»Ich will nicht ins Krankenhaus«, stöhnte Oma Annetje mit aller Kraft, die sie noch in sich hatte. »Bring mich nach Vosseveld! Ich will zu Hause sterben.«
Hätte Lepel ihre flehentliche Bitte erfüllt, hätte es Oma Annetje mit ihrer gerissenen Niere, ihren gebrochenen Rippen und ihrem ernstlich verletzten Bein sicher nicht überlebt.
Lepel wies die Sanitäter an, die Verletzte mit größter Eile ins Krankenhaus zu bringen. »Gerade noch rechtzeitig. Eine Frage von Minuten, und sie wäre verblutet«, meinte der behandelnde Chirurg.
Oma Annetje musste Wochen im Krankenhaus bleiben. Als man sie, klein und zitterig, nach Vosseveld zurückgebracht hatte, wurde sie, in ihren eigenen Worten, nur noch durch die Verbandsklammern zusammengehalten. Wochenlang bivakierte sie in einer Art erhöhtem Gebärbett im oberen Schlafzimmer, abwechselnd gepflegt von ihrer Schwester Vera und Baars, ihrer ehemaligen Kollegin aus dem Krankenhaus.
Nach ihrer Genesung blieb Oma Annetje schwach und für den Rest ihres Lebens hinkte sie. Undenkbar, dass sie in diesem Zustand zahlende Gäste ins Haus nehmen konnte, so wie sie es vorgehabt hatte, um die Kosten zu decken. In diesen Wochen entstand der Plan, Vosseveld umzubauen.
Die Parallelen sprangen ins Auge. Auch damals war der Verdacht eines Selbstmordversuchs aufgekommen. Auch damals wurde noch lange an einem Fuß herumlaboriert. Auch damals wurde ein halbherziges Bemühen, andernorts Unterkunft oder Arbeit zu finden, durch Krankheit und Schwäche vereitelt.
Ouds Schrecken und Besorgtheit schienen dem Zusammensein am Overtoom jedenfalls wieder neues Leben eingehaucht zu haben. So gedachte er in seinem Nikolausgedicht von 1928 voller Einfühlsamkeit Annetjes kurz zuvor verstorbener Mutter:
Auch Dir ward dieses Jahr viel Leid beschieden,
Doch fasse Mut – zeige, Du bist eingedenk hinieden,
Dass dies es sich gewünscht, die Dir so schmerzlich fehlt,
Deine Freud’ tat ihr stets gut – sie hat es nie verhehlt.
Für sie soll es die größte Freude sein
Zu wissen, dass ihrer lieben Ann
Dereinst Glück und Gutes widerfährt.
Wieder schien Oud auf eine alternative Zukunft für Annetje anzuspielen. Aber als seine Frau 1932 dann endlich verstarb, folgte nicht der Heiratsantrag, auf den Annetje vielleicht noch gehofft hatte. Die Söhne blieben strikt dagegen. Hans Oud zufolge am allerheftigsten ihr früherer Geliebter: »Wenn du das tust, siehst du mich hier nie wieder.«
Falls die Urlaubsreisen nach Deutschland und Österreich, die Oud in den dreißiger Jahren veranstaltete, vielleicht als Trostpflaster gemeint waren, dann verfehlten sie ihr Ziel. Die entsprechenden Urlaubsfotos zeigen eine hinkende, verwelkte Annetje mit einem bitter verzogenen Mund. Das einzige Mal, dass sie noch mit einem breiten, glücklichen Lächeln erwischt wurde, an einem Sommertag im Jahr 1936, irgendwo in den Dünen von Bergen, steht sie Arm in Arm mit ihrem Sohn Piet (für die Außenwelt: ihrem Neffen), der in jenem Herbst einundzwanzig wird.
Ende 1937 gab es Anzeichen einer neuen Krise. Ouds Nikolausgedicht fehlte! Lous Oud erinnerte sich noch Jahrzehnte später an Annetjes ungewöhnliche Abwesenheit an diesem Tag. »Wo warst Du damals? Denn ich entsinne michnicht, dass Du da warst. In früheren Jahren war es doch so lustig …«
Nikolaus 1937 verbrachte Annetje bei Vera.
Als jedoch 1938 bei Oud Krebs konstatiert wurde, der ihn letztendlich zu Fall brachte, war Annetje wieder auf ihrem Posten. In dem letzten erhaltenen Gedicht, das er an sie richtete, sein Nikolausgedicht von 1938, bringt Oud seiner ›liebsten Ann‹ seinen tief empfundenen Dank zum Ausdruck.
Nicht gedacht, dass ich diesen Tag noch erleben würde –
Wohl gedacht an Deine außergewöhnlich gute und kundige Pflege, die dazu so unbenennbar viel beigetragen hat –
Was Du für mich tatest und noch tust,
das ist nicht hoch genug zu schätzen.
Ich will Dir denn auch an diesem Tag
noch einmal extra herzlich danken –
Nacht wie Tag sind Deine guten Taten in meinen Gedanken.
Was wäre aus mir geworden ohne meine liebste Ann?
Und sollte ich genesen,
Wem ist das dann vor allem zu danken?
Jedenfalls sind dies Versuche, um für die liebe Ann zu sorgen – als Zeichen inniger Verbundenheit.
Nochmals vielen Dank – mit ein paar kräftigen Küssen
Dein Dich liebender Baas
›Versuche, um für die liebe Ann zu
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