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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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Unter dem Trennblatt ›Vater‹ fand ich einen Brief, den Lepel seinem Halbbruder am 8.   April 1941 – noch keine zwei Wochen nach dem Umzug – geschrieben hatte.
     
    Lieber Henk, heute war ein Unglückstag. Vater ging zum Einkaufen nach Soestdijk, und wir bekamen um halb elf die telefonische Mitteilung, dass er gestürzt sei und sich das Bein verletzt habe. Weedestraat 2b, Soestdijk. Natürlich bin ich gleich mit dem Fahrrad dorthin gerast, und wie ich es schon erwartet hatte, war das Bein gebrochen. Er ist über die Schwelle eines Ladens gefallen! Es musste ein Röntgenbild gemacht werden, und er wurde dafür direkt zum Elisabeth-Hospital gebracht. Der Krankenwagenist gerade hier gewesen, um Ann mitzunehmen, und bringt Vater jetzt nach Amersfoort. Was für ein Glück, dass ich gestern schon zurückgekommen bin. Ich hatte schon eine Vorahnung, dass sie mich hier dringend brauchen würden.
    Ich halte Dich auf dem Laufenden, in Eile,
    Lepel
     
    Großvater hatte also einen Unfall gehabt. Worauf dann schnell die geheimnisvolle Krankheit gefolgt war, der er beinahe erlag. Und sehr bald danach wurde er in die Nervenheilanstalt in Den Dolder eingeliefert. Ich stieß auf einen Brief von Lepel, der darauf Bezug nahm.
     
    Vosseveld, 17.   Juli 1941
    Lieber Henk,
    ich wurde Dienstagmorgen vom Arzt telefonisch aus Arnheim hierhergerufen, da Vater sehr unruhig war. Ich hatte Dir ja schon früher davon erzählt. Die Symptome werden immer besorgniserregender, und als ich herkam, wollte er nichts mehr essen oder trinken. Dachte, dass überall Gift drin sei. Er war böse auf Ann und mich. Warum? Seine Augen blickten völlig abwesend und waren grau. Ich sah sogleich, dass sein Denkvermögen nicht in Ordnung war. Am selben Tag wurde alles geregelt für eine Einlieferung ins ›Willem Arntsz-Hoeve‹ in Den Dolder, und abends wurde er abgeholt. Viel kann ich noch nicht darüber berichten. Wir sind alle beide noch sehr mitgenommen. Es war ein schrecklicher Tag. Vorläufig besucht ihn niemand, er muss erst vollkommen zur Ruhe kommen. Auf das Urteil der Ärzte müssen wir noch warten bis nach den ersten Observationen, aber es ist schon sicher, dass dieser Zustand zu einem großen Teil auf die vorangegangene Krankheit zurückzuführen ist.
     
    Mary schien also recht gehabt zu haben, als sie auf ihrem Sterbebett behauptete, es habe ein Fluch auf Vosseveld gelegen.Das Pech hatte die Bewohner von Anfang an verfolgt. Das Geld von H.   C.   Oud schien – wie gut es auch gemeint war – ein weiteres Mal eine katastrophale Auswirkung auf die Begünstigten gehabt zu haben. Annetje hatte sich das Haus widerrechtlich angeeignet und ihren Ehemann betrogen. Die Strafe für diese Sünde war anscheinend nicht ausgeblieben. Aber was hatte sich wirklich in Vosseveld abgespielt?
    Keine weiteren Briefe von Lepel aus dieser entscheidenden Periode. Dabei hatte er sich gerade als ein guter Berichterstatter erwiesen. Nun blieb eine Lücke.
    Um die zweite Hälfte von Annetjes Leben, die so unentwirrbar mit Vosseveld verbunden war, beschreiben zu können, würde ich mich mit dem behelfen müssen, was tatsächlich verfügbar war.
     
    Die kleine Gemeinde Soest liegt, zur Hälfte von Wäldern umschlossen, etwa zehn Kilometer westlich von Amersfoort an der Bahnstrecke Hilversum   – Utrecht. Das Haus Vosseveld lag an der Vosseveldlaan, einer Seitenstraße der Birktstraat. Ich fuhr nach Soest, um den Ort aufzusuchen, wo es gestanden hatte.
    Die Hecke war noch da, verwildert und breit ausgewuchert, mit den noch nicht völlig zugewachsenen Öffnungen, wo einmal die Gartentore gewesen waren. Der Halbkreis des Weges war noch undeutlich nachzuvollziehen. Die Akazie hatte standgehalten, kahl, entlaubt, nicht viel mehr als ein Stamm. An der Nordseite ragten Stümpfe aus einem Bett von Hühnerhirse und Lupinen hervor: der Apfelbaum, gefällt. Der Fingerhut blühte und das Silberblatt. Ein Rhododendron markierte den Standort der einstigen Gartenlaube. Es stand sogar noch ein Überbleibsel unseres Kiefernverstecks.
    Wo waren sie geblieben, die sorgfältig in kleine Stücke geschlagenen Überreste von Marmorplatten, die meine Mutter seinerzeit ergattert hatte, weiß, grau, rosa, schwarz, aus denenmein Vater Lepel den Mosaikboden für die Terrasse gelegt hatte? Wo waren die Salamander, die Frösche, der Drachen?
    Vom Haus war nichts übrig, kein Splitter, kein Stein. Äste, Müll, Unkraut und Moos bedeckten den ausgelöschten Grundriss. Ich musste schätzen, wo

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