Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
wie. Der andere Soldat hat dann zu dem einen gesagt: ›
Komm. Da ist nichts.‹
Und dann sind sie gegangen.«
Kein Wunder, dachte ich jetzt, dass sie ihr geglaubt hatten. Sie hatte die Wahrheit gesprochen. Onkel Piet war wirklich ihr Sohn gewesen – untergetaucht bei seiner eigenen Mutter.
Im April 1953 feierte Großvater seinen achtzigsten Geburtstag. Es war ein warmer Frühlingstag. Ich war sieben, und ich erinnere mich noch gut an den Rummel, an die Berge von Blumen und Gestecken. Großvater saß im Garten, umgeben von ehemaligen Schülern und alten Kollegen – wir wussten damals noch nicht, dass bald seine letzten Wochen anbrechen sollten, in denen wir von Vosseveld ferngehalten wurden.
Lieske und ich flüsterten abends im Bett und gruselten uns im Dunkeln. Hauptrolle in unseren Fantasien spielte der Mann, der neben dem Flügel hing, in einem länglichen Rahmen. Ein magerer, nackter Mann mit durchbohrten Händen und Füßen und einem Kranz von spitzen Zweigen auf seinem blutigen Kopf. Wir wussten es genau. So würde Großvater daliegen, sterbend oder schon tot, auf dem Diwan im Vorderzimmer.
Oma Annetje hatte das mit dem Diwan stets mit aller Heftigkeit bestritten. Aber die Grabrede, die Onkel Henk für Großvater hielt und von der ich einen Entwurf in seinem Ordner fand, gab uns nachträglich recht.
… es war in letzter Zeit wenig Veränderung in Vaters Zustand eingetreten, bis wir plötzlich am Montagabend, den 24. August, von Lepel angerufen wurden, der erzählte, dass es sehr schlecht um Vater stehe und dass Ann finde, dass wir noch einmal kommen sollten. Wir wollten nicht das Risiko eingehen, dass Vater starb, ohne dass wir ihn noch einmal gesehen hatten. Wir sind dann am Dienstagmorgen gefahren, aber in jener Nacht hat es offenbar Momente gegeben, in denen Ann es bereute, dass sie uns nicht schon am selben Abend hatte kommen lassen. Das waren dann Anfälle von Atemnot, wobei man nicht wusste, ob sein Herz durchhalten würde. In solchen Phasen hatte der Ärmste schon arge Beklemmungen, war aber zum Glück meist ganz oder halb bewusstlos.
Als wir am Dienstagnachmittag zu ihm kamen, ging es ihm wieder besser. Er hatte keine Atemnot, erkannte uns gleich alle drei, war aber sehr schwach. Einige Mal sprach er ausschließlich flüsternd, manchmal sogar unhörbar. Geistig war er meistens weit weg und rastlos mit allerlei Gedanken beschäftigt. Ich habe den Eindruck, dass es alles typische Traum- und Kindheitsgedanken waren. So bildete er sich ständig ein, er würde am Klavier sitzen. Er drückte die Finger auf die Decke, hörte andächtig zu und sagte dann ganz enttäuscht: Man hört nichts. Es geht nicht. Es ist zu leise (er meinte die Decke damit). Dann wieder wollte er die Decke weg haben und probierte es erneut. Einmal – ich war gerade allein bei ihm – wollte er raus. Er richtete sich ganz auf, streckte sein Bein über den Rand, noch recht stark, und bat mich, ihm zu helfen. Aufstehen ging freilich nicht, ich traute mich auch nicht, ihm zu helfen. Als Ann dazukam, haben wir ihn doch kurz zusammen aufrecht bekommen, obwohl er mit seinem ganzen Oberkörper vorgekrümmt dastand und das Gesicht völlig zu Boden gerichtet hatte.
Später war er so ermüdet, dass er ein paar Stunden lang schlief. Da wirkte er sehr ruhig. Als er wieder wach wurde, war er freilich so schwach, dass er seine Augenlider nicht ganz auftat, nur flüsternd redete, beinahe ausschließlich unzusammenhängende Dinge. Wir wissen nicht, ob es zu ihm durchdrang, wer genau bei ihm war. Doch hat er am folgenden Tag (da waren wir schon weg) noch im Bett gesungen, Anns Schwester Vera war da bei ihm. Es war sehr ergreifend, obwohl nicht gut auszumachen war, was er sang. Es waren, wenn ich es richtig verstanden habe, eher Übungen.
Donnerstagabend rief Lepel an, dass Vater soeben gestorben sei (Viertel vor eins). Er hatte die letzten Stunden Atemnot und Schmerzen in der unteren Körperhälfte gehabt, doch die wurden mit einer Spritze gelindert.
Natürlich sind wir dann so schnell wie möglich nach Soest gefahren. Wir waren dort gegen 4 Uhr, als Vater mittlerweile gewaschenwar. Da lag er noch oben auf seinem eigenen Bett, am selben Abend wurde er nach unten gebracht, ins große Musikzimmer. Sein Gesicht war noch glatt und ziemlich jugendlich, nicht das eines alten Mannes, eine großartige Erinnerung, auch wegen der Ruhe, die nach seinen verwirrten Gedanken endlich eingetreten war.
Gerne möchte ich euch allen danken, dass ihr
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