Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
November. Es stürmt hier jetzt schon seit Tagen. Das ganze Haus stöhnt unter den andauernden Windstößen. Von meinem Bett aus kann ich das Feuerwerk über Noordwijk und Scheveningen sehen. Inzwischen sind wir in Gedanken schonbeim Umzug. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, und dann geht’s los mit Packen. Nein, Liebes, natürlich macht es nichts, wenn Du nicht so viel zu schreiben hast. Ich bin immer so froh, wenn ich Dein Gekrakel sehe, gerade so, als wären wir zusammen. Es herrschen doch elende Zeiten. Die Berichte im Radio und in den Zeitungen machen einen mürbe, überall begegnen einem Rachegedanken, und die Menschen haben nur Hass im Sinn. Nachts dröhnen die Flugzeuge und donnert das Geschütz. In dem Getöse der Brandung höre ich die Stimmen von Millionen. In den toten Bäumen, die drohend ihre Äste gen Himmel schütteln, sehe ich die Verzweiflung dieses Krieges. Höchstens eine Woche lang bin ich in einer glücklichen Stimmung, dann dringt das Echo des Weltleidens wieder zu mir durch, und ich sehne mich nach einem Vorboten besserer Zeiten. Und das ist jeder Brief von Dir, Kleine, auch wenn Du nur ganz gewöhnliche alltägliche Dinge schreibst. (4. November 1940)
... dicke graue Nebel machen alles unsichtbar, und man erschreckt sich zu Tode, wenn dann plötzlich die Schatten von deutschen Militärfahrzeugen aus dem Dunst auftauchen. Die letzten Tage wurde in den Dünen gewaltig geübt. Gestern wurde den ganzen Tag lang geschossen. Nachmittags ist ein Flugzeug ständig über uns gekreist. Es wird mit Rauchgardinen und Gasmasken operiert. Was ist das doch für eine traurige Vorstellung, all die jungen Burschen, die da exerzieren, nur um so tadellos wie möglich in den Tod zu marschieren. Und das jetzt schon über drei Erdteile. (23. November 1940)
... Heute Morgen waren stundenlang sechs englische Flugzeuge über den Dünen und haben eine prächtige Widmung an Wilhelmina und Juliana in den Himmel geschrieben. Zuerst ein sehr großes W mit der Krone darunter; links unten ein großes J und ein kleines W und rechts oben idem, aber dann umgekehrt. Ann und ich haben mit Erstaunen zugesehen. Leider war Vater geradeweg, um den Notar anzurufen. Aber er brachte die Kunde, dass es mit Vosseveld klappt! Kind, was bin ich froh! Ann dachte schon, dass es sich endgültig erledigt hat. (29. Januar 1941)
... jetzt heißt es für mich erst mal kampieren in Vosseveld. Ich gehe Wache schieben, bis die Maler fertig sind, denn das Haus darf natürlich nicht leer stehen. Ich sehe mich da schon ein Pfeifchen rauchen in dem leeren Haus. (22. Februar 1941)
... Es stürmt noch immer, und der Regen peitscht gegen die Scheiben. Aber heute Morgen begann auf einmal eine Amsel im Garten zu singen. Ich rief es Ann zu, die sich im gleichen Moment aus der Küche vernehmen ließ, dass da eine Amsel singe! … Noch immer stürmt es, und der Frühling, Vosseveld, alles wirkt so unwirklich. Es ist alles so nahe und noch so schrecklich weit weg. (28. Februar 1941)
... Heute Morgen hörte ich von Ann, dass eine englische Maschine zuerst ganz tief übers Haus geflogen sei und dann Bomben abgeworfen habe. Hier ganz in der Nähe. Verrückt, dass ich nicht davon aufgewacht bin. Heute Nachmittag haben Ann und ich wie zwei Schatzgräber den Boden vom Gartenschuppen aufgebrochen und unseren Vorrat Würstchen ausgegraben. Draußen wird wieder eifrig geschossen. Gestern war der Arzt da. Vaters Blutdruck war jetzt wieder vollkommen normal. (3. März 1941)
Amüsant und lebendig wie sie waren, befremdete mich doch etwas an Lepels Briefen. ›Hörte ich von Ann. Ich rief Ann zu.‹ Lepel schien sehr vertraut mit seiner neuen Stiefmutter. Er schrieb mehr über sie als über seinen Vater. Und seiner eigenen Mutter widmete er kein Wort. Von einem jungen Mann von neunzehn, zwanzig sollte man doch eher Aufsässigkeit oder Ablehnung gegenüber dieser neuen, späten Eheseines Vaters erwarten. Hier schien das Band immer stärker zu werden.
Annetje hatte ihren Stiefsohn sogar in ihr Testament aufgenommen, und Lepel muss das gewusst haben. Beweise dafür sind seine schönen Zukunftspläne mit Mary auf Vosseveld. (Die sich übrigens erheblich weniger rosig erweisen sollten, als er sich das vorgestellt hatte.)
Vom 22. März 1941 an schreibt mein Vater aus Vosseveld an meine Mutter und liefert einen kompletten Tag-für-Tag-Bericht über die erste Woche im neuen Haus.
... 5 Uhr. Ich sitze in der Diele und
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