Frau Schick macht blau
unter den Giebel angefüllt schien mit Mauerflüstern, Balkenächzen und Ahnengeseufze. Den Geräuschen nach zu urteilen, hausten sämtliche Dämonen und Nachtfratzen Ostpreußens zwischen Hinkebeinstühlen, ausgestopften Elchköpfen und einer gefälschten Mumie, die sich der tüdelige Taddäus in Kairo hatte aufschwatzen lassen.
Wenn Gewitter war und die Eltern nicht daheim waren, durfte Röschen Schlag zwölf samt Puppenbesen mit aufs Dach. Rosalinde »Röschen« Schick, geborene von Todden, findet Gewitter seither grandios. Schwungvoll schlägt sie das buntverglaste Fensterchen zu. Glas klirrt leise zitternd nach. Sie blickt sich suchend in der hell erleuchteten Eingangshalle ihrer Gründerzeitvilla um. Wo hat sie nur diesen vermaledeiten Besen hingestellt?
Ihre Kölner Villa ist zwar deutlich kleiner als Pöhlwitz, hat aber viel zu viele Zimmer für jemanden mit leichten Gedächtnisschwächen. Frau Schick schüttelt seufzend den Kopf. Na, wenigstens handelt es sich nicht um Alzheimer, da ist sich sogar Grünschnabel inzwischen sicher. Trotzdem ist es neu und bedenklich, dass sie außer ihren Brillen jetzt auch Besen verbumfidelt. Das muss die Aufregung sein.
Ha, da ist er ja! Hat sich in der Bodenvase neben dem scheußlichen Garderobenungeheuer auf Löwenklauen versteckt und spielt mit ihrer neuen Reitgerte Spazierstock oder Regenschirm. Frau Schick stiehlt sich mäuschenstill auf die Vase zu wie ein Dieb im eigenen Haus. Was sie vorhat, ist ihr doch ein wenig peinlich, schließlich ist sie kein Röschen mehr und Pöhlwitz samt der Schemutat und Ostpreußen seit über einem halben Jahrhundert perdu.
Das Schleichen klappt trotz zwei künstlichen Hüftgelenken noch immer gut, freut sich Frau Schick. Wenn sie nur im Kopf noch so flink wäre wie mit den Füßen. Die haben ja sogar den Camino geschafft – in Häppchen zumindest und dank Herberger. Hoffentlich kommt der bald mal aus Tahiti zurück. Schon wegen der Hochzeit, und weil er Nelly den Unsinn mit der Lockenwickler-Werbung ausreden muss.
Frau Schick hält entrüstet inne. Also wirklich, sie hätte doch für Nelly genug zu tun! Nelly könnte zum Beispiel gegen gutes Geld ihre Memoiren schreiben, die vakante Chauffeurstelle von Herberger übernehmen, die unzähligen Akten ihres Verstorbenen im Keller sortieren und – falls Herberger bockt – mit ihr in Hürth-Knapsack den misshandelten Zirkusesel befreien, von dem ihre Pilger- und Tierfreundin Bettina Blauauge berichtet hat.
Wirklich, es gäbe reichlich zu tun, und Gesellschafterin war früher ein höchst schicklicher Beruf. Aber nein, Trotzkopf Nelly will sich am eigenen Schopf aus dem Finanzsumpf ziehen. Mit Lockenwicklern und lockeren Sprüchen.
Sehr undankbar und widerspenstig, ihre Nelly. Dabei hat Frau Schick sie im Wald aus einem Schlammbach gerettet und über manches Hindernis hinweg in Herbergers Arme geführt.
Ach ja. Frau Schick wird ein wenig wehmütig ums Herz. Auf dem Jakobsweg war jeder Tag ein Abenteuer. Sie hatte zu tun und ständig Menschen um sich. Alle waren mit ihrem eigenen Lebensroman unterwegs und auf der Suche nach einem neuen Kapitel oder einem gelungenen Abschluss. Sie hat an so einigen mitgeschrieben und für fabelhafte Happy Ends gesorgt. Leider haben fast alle ihre Tippelfreunde jetzt so viel zu tun oder sind so verliebt, dass sie sich kaum noch melden. Happy Ends sind ein Ärgernis. Irgendwie muss es danach auch mal weitergehen.
Frau Schicks Lächeln wackelt wie eine brüchige Leiter, der ein paar Sprossen fehlen. Nur Bettina Blauauge meldet sich zuverlässig aus Spanien, wo die gescheiterte Ärztin mit dem Helfersyndrom eine neue Aufgabe gefunden hat: vierbeinige Camino-Streuner retten und nach Deutschland exportieren. Frau Schick unterstützt sie dabei, obwohl sie Zweibeiner, gern auch verwaiste und zerzauste, erheblich amüsanter findet. Nun gut, die Eselbefreiung dürfte interessant werden, aber dafür bräuchte sie eben Herberger oder Nelly. Am besten beide.
Frau Schick seufzt. Seit ihrer Rückkehr in die Villa lastet das Alleinsein doppelt. Wie ein Goldfisch in einer zu engen Glaskugel ist sie in den letzten Tagen durch die Villa geirrt. Immer im Kreis und mit zerzausten Flossen. Die Welt erschien ihr oft so totengrau, als sei über allem eine Staubsaugertüte explodiert. Zu allem Überfluss macht ihr nachlassendes Kurzzeitgedächtnis, das mühelos Brillen und Besen verschwinden lässt, ihrem zähen Langzeitgedächtnis mehr und mehr Platz, und nicht alle
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