Frau Schick macht blau
Schick Paulchens unverwechselbare Geruchskomposition aus Havannas und Eau savage in die Nase. Erstaunlich, dass die sich nach all den Jahren nicht schon ganz verflüchtigt hat.
Ein Stichflämmchen durchzuckt ihr Herz, das stolpernd Reißaus nehmen will vor den Erinnerungen an Schmerz und Verlust. Feiges Ding, beschimpft Frau Schick es und holt extra tief Luft. Durch die Nase. Das ist, nein, war schließlich Paulchens Geruch und hat nichts mit spukenden ostpreußischen Schreckschrauben zu tun. Paulchen hat den protzigen Hausmantel, der mit pseudojapanischen oder chinesischen Schriftzeichen durchwirkt ist, mal aus dem Kostümfundus des Schauspielhauses geschenkt bekommen, für das er zu günstigen Konditionen eines seiner Parkhäuser errichtet hat. Davor hat den Mantel ein längst verblichener Mephisto getragen – damals, als Mephisto auf der Bühne noch wie der Höllenfürst persönlich und nicht wie ein psychopathischer Börsenmakler oder Mafioso aussehen durfte.
Sie schmiegt sich kurz in den Kimono, der ihre schmalen Schultern wie eine Zwanzig-Kilo-Hantel niederdrückt. Der vertraute Paulchen-Geruch ersetzt keine Umarmung, aber er schenkt ihr ein Gefühl von Unverwundbarkeit. Das wird sie brauchen.
Entschlossen strafft sie den Rücken und reckt das Kinn. Der Mephisto-Kimono passt perfekt zu ihrem Vorhaben und ist durch seine Schriftzeichen ein kleines Zugeständnis an Bettina Blauauges Buchtipp in Sachen Gespenster. Das Buch handelt von etwas, das nach Raumfahrt und einem Gericht aus dem Chinarestaurant klingt.
Wie war noch der Titel? Space shuttle? Nein: Space Clearing, eine Art spirituelle Raumreinigung. Und dazu irgendwas mit Chop suey. Nein, auch falsch.
Ha, jetzt hat sie es wieder: Heilige Orte schaffen mit Fengshui & Space Clearing – so vertreiben Sie negative Energien . Fengshui soll ja unter anderem eine Wissenschaft über den Umgang mit lästigen Vorfahren sein. In Asien vertreibt man die symbolisch mit Glöckchenbimmeln, Händeklatschen und Blümchenstreuen. Fehlt nur noch der Tipp, seine Ahnen mit Glückskeksen zu bewerfen.
Pah! Frau Schick schüttelt den Kopf. Schöner Blödsinn, soll aber sehr in Mode sein. Na, immerhin weiß sie jetzt, dass sie – falls sie doch plemplem und Freda von Todden eine temporäre Wahrnehmungsstörung ist – damit weltweit nicht allein dasteht.
6.
»Meine Mutter ist nicht da«, faucht Becky.
»Hör zu, Becky, du kennst mich nicht«, versucht es Herberger so besonnen und freundlich, wie es in seinem übermüdeten Zustand möglich ist, noch einmal. Er schwankt unter dem Gewicht eines Hightech-Rucksacks und muss sich am Treppengeländer festhalten. »Ich muss deine Mutter wirklich sehen. Es ist wichtig.«
»Nicht wichtig genug«, schnappt Becky. »Und fremde Männer darf ich sowieso nicht in den Wohnung lassen.«
Herberger nickt. Das ist plausibel. »Gut, dann warte ich hier im Treppenhaus auf ihre Rückkehr.« Er streift den Rucksack ab und stellt ihn an einer Wand ab.
Becky stemmt die Hände in die Hüften. »Hören Sie mal, das ist völlig vergeblich. Meine Mutter kommt heute Nacht nicht wieder. Sie schläft bei einer Freundin.«
»Könntest du mir die Adresse der Freundin geben?«
Becky zieht die Stirn in Falten. »Nein. Meine Mutter bereitet sich mit ihr auf dringende Vertragsverhandlungen für einen neuen Job vor. Dabei darf sie nicht gestört werden, hat sie extra gesagt.«
Herberger gibt sich geschlagen. »Kannst du deiner Mutter wenigstens sagen, dass ich hier war und sie unbedingt sehen will? Oh, verzeih, ich habe dir meinen Namen ja noch gar nicht genannt. Ich bin …«
»Lästig. Ihren Namen will ich gar nicht wissen, und jetzt verschwinden Sie.« Mit einem Knall ist die Tür zu.
Herberger hievt seufzend den Rucksack wieder auf die Schultern. Das nennt man abgeblitzt. Herrje, dass Teenager rebellisch sein können, ja müssen, hat er gewusst, aber diese Becky tut ja geradezu so, als sei er Freddy Krüger. So schrecklich sieht sein Narbenkinn nun auch wieder nicht aus. Aber die Bartstoppeln … Er reibt sich resigniert das Kinn und wendet sich mit bleischweren Füßen wieder der Treppe zu.
Bei welcher Freundin Nelly wohl übernachtet? Frau Schick könnte es wissen. Ja, das wäre möglich. Er zückt sein Handy. Ach was, er fährt am besten direkt zu ihr. Es ist gerade erst halb neun durch, da wird sie noch wach sein. Frau Schick ist eine Nachteule. Er wählt die überregionale Taxinummer, nennt Nellys Adresse und stapft drei Treppen hinab.
Über
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