Frau Schick macht blau
Drehkugelsessel hockt wie ein betrübtes Baby, das sich weigert, geboren zu werden, und das Nelly rasch in die Arme schließen muss.
»Hab dich lieber als vierhundert Biber, Mama«, flüstert ihre große Kleine in solchen Momenten. »Glaubst du mir das?«
Das glaubt Nelly nicht, das weiß sie. Ihr geht es umgekehrt ja genauso. Aber ist es zu glauben, dass Baby Becky Biberherz ihr einen Job verschafft hat?
Möglich wäre es. Wenn Nelly früher einmal die Tränen nicht unterdrücken konnte, weil Aufträge und Kindesunterhalt von Jörg ausblieben und sie i-Dötzchen Becky nicht einmal das Kakaogeld zustecken konnte, hat Becky ihr Sparschwein geschlachtet, um Nelly Schokoküsse zu kaufen. Einmal – da war Becky acht – ist sie sogar mit der Blockflöte und in zuvor zerlöcherter Strumpfhose zu Edeka marschiert. Vor dem Ladeneingang hat sie eine Stunde lang Stille Nacht gespielt. Besser gesagt: Sie hat geübt, es zu spielen. Im Hochsommer.
Nelly hat davon durch eine Nachbarin erfahren, die Becky samt Blockflöte und empörtem Sie-sollten-sich-was-schämen-Blick bei ihr abgeliefert hat. Becky war sagenhaft stolz auf 14,70 Euro Stundenlohn und darauf, Stille Nacht nunmehr auswendig zu können. Ersonnen hat sie die Verdienstmöglichkeit nach der Lektüre von Kästners Pünktchen und Anton .
Nelly sucht Halt an einer Warengondel und zwinkert die aufsteigenden Tränen weg. Nur gut, dass Augenabschwellpads im Körbchen liegen.
»Mama? MAMA!«
»Oh, Becky. Du, ich hab dich lieber als …«
»Lass das. Was suchst du vor einem Regal mit Weichspüler und Waschpulver? Willst du dir das auch ins Gesicht schmieren?«
»Ich finde kein Haarshampoo«, bemüht sich Nelly um Haltung und findet es sehr peinlich, das als künftige Werbefachfrau für Coiffeure zugeben zu müssen.
»Nimmste halt meins. Wir müssen weiter.«
Nelly staunt. »Weiter? Wohin? Musst du nicht mal langsam los zum Praktikum?«
Ihre Tochter verdreht die Augen. »Wir müssen ein Kleid kaufen. Für morgen Abend. Das gehört zu meinem Praktikum.«
»Wie bitte?«
»Auftrag von Kreativboss Rottländer. Er meint, ich hätte ein Händchen für coole Outfits.«
»Für ein neues Kleid habe ich kein Geld.«
»Ab morgen Abend hast du reichlich Flocken, und das Kleid geht auf Kosten des Hauses. Du kannst Rottländer die Rechnung schicken.«
»Rottländer will mir ein Kleid für die Vertragsverhandlungen bezahlen?«
»Da gibt’s nichts mehr zu verhandeln, Mama, echt! Das Kleid ist ein Lockmittel für den Kampagnenstar, der morgen dabei sein wird. Du weißt schon: Sex sells und so.«
»Ich will keinen Sex verkaufen, sondern meine Arbeitskraft! Und wer ist überhaupt dieser geheimnisvolle Kampagnenstar?«
»Weiß ich doch nicht!«
Schon ist Becky weg und Richtung Kasse verschwunden.
So was. Nelly muss heute Abend unbedingt noch mal mit Ricarda reden. Die wird den eingeplanten Star ja wohl kennen. Nachdenklich wickelt sich Nelly eine Haarsträhne um den Finger. Was geht nur in Beckys Kopf vor? Und was in ihrem?
5.
Eine Nacht so schwarz wie Teer und Tinte. Am Himmel ist kein Zipfel Mond zu sehen. Wie ärgerlich!
Frau Schick späht mit gerunzelter Stirn durch ein Flurfensterchen im Treppenaufgang zu ihrem Schlafzimmer. Zwölf Uhr ist es auch nicht, sondern eben mal halb neun durch.
Na, es wird auch ohne Mitternacht und Vollmond gehen, ermuntert sie sich. Schließlich hält sich Freda von Todden selbst nicht an die Geisterstunde. Eben hat es im Keller leise geseufzt und getrippelt. Das muss ein Ende haben, sonst wird sie am Ende wirklich noch plemplem. Wenigstens kündigt sich von Westen mit Grollen ein Gewitter an. Der schwüle September holt den deutschen Sommer wirklich gründlich nach.
Frau Schick kneift abwartend die Augen zusammen. Da – ein Blitz! Und gleich noch zwei weitere. Wie in einem Comic gehen sie am Horizont als gezackte, goldgelbe Schwerter nieder und reißen Schlitze ins dunkle Nachtgewand. Frau Schick nickt zufrieden. Gewitter ist gut.
»Wenn der Herrgott blitzt und donnert, kriegt der Deiwel eins aufs Dach, min Röschen«, hat die olle Schemutat immer gesagt, sodann mit Schuster Popesch ein »Schlubberchen Machandel« – ihren berüchtigten Wacholderschnaps – gekippt und den Besen rausgeholt, um zusammen mit Popesch im Speicher die Gespenster auszukehren. Da hatten die beiden reichlich zu tun; Pöhlwitzens Dachboden zog sich über beide Flügel des herrschaftlichen Anwesens und war über zweihundert Jahre alt. Kein Wunder, dass er bis
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