Frau Schick macht blau
Erinnerungen, die dabei zum Vorschein kommen, sind erfreulich.
Auf dem Jakobsweg war das heilsam, aber in diesem Haus arbeitet ihr Gedächtnis schonungslos wie Lackentferner. Es legt Schicht um Schicht Erinnerungen frei, die unerträglich sind, wenn Freda von Todden sich leibhaftig einmischt und die Hauptrolle darin spielt. Ganz wie damals, nach dem Krieg, als Frau Schick, damals noch Röschen, in dieser Villa mit ihr leben musste. Freda – allein der Name klingt nach Frost und Freudlosigkeit. Wenn sie sich dazu noch ihr Gesicht vorstellt, bekommt sie einen Kälteschock. So sehr hat sie sich mit elf Jahren vor Freda gefürchtet, dass sie das Gefühl noch heute mühelos abrufen kann.
Frau Schick schreckt aus ihren Gedanken hoch. Draußen bellt ein Hund. Heiser, wie alte Raucher husten. Stalin!
Das Bellen kommt näher, Kies knirscht unter schweren Schuhen. Die Schritte kennt sie. Offenbar stapft der Weihnachtsmann mal wieder das Eingangstreppchen hoch.
»Mach Platz, Stalin«, murmelt es vor der Tür, dann klopft es.
Wirklich lästig der Kerl, nicht mal in Ruhe Gespenster vertreiben kann sie. Will der wieder über Schrebergärten faseln? Sie hat ihr Leben lang nichts an der Haustür gekauft, keinen Staubsauger, und Grundstücke von Weihnachtsmännern schon gar nicht.
»Frau Schick, bitte, Sie müssen mich anhören!«, ruft der Kerl vor der Tür. Stalin bellt zustimmend.
»Nein«, hält Frau Schick – unterstützt von erfreulich nahem Donnergrummeln – dagegen. Der Kerl soll verschwinden, sonst verpasst sie den richtigen Zeitpunkt, um Freda von Todden den Garaus zu machen.
»Es ist wirklich dringend. Ich muss Ihnen was von Ihrem Mann ausrichten. Wegen der Schrebergärten.«
»Da kommen Sie reichlich zu spät. Mein Mann ist tot. Und zwar seit fünf Jahren.«
»Ich weiß, und es tut mir leid, dass ich erst jetzt komme, aber Ihr Mann hat mir zugesagt, dass ich jederzeit vorbeikommen könne, wenn es Ärger wegen der Gärten gibt, und jetzt gibt es welchen. Bitte, Frau Schick, Sie sind unsere letzte Hoffnung. Sehen Sie sich Ihre Gärten doch wenigstens mal an«, dringt es dumpf durch die Tür.
Ihre Gärten? Was meint der denn damit? Sie hat doch keine Schrebergärten. Oder doch? Herrje, nein, das wäre ihr ganz sicher nicht entfallen. Ihr Gedächtnis ist manchmal ein Sieb, aber kein Fass ohne Boden.
»Ihr Mann und ich waren sozusagen Geschäftsfreunde. Bitte enttäuschen Sie mich nicht«, behauptet der nächtliche Besucher draußen vor der Tür.
Das wird ja immer besser! Mit so einem Hausierer hat ihr Paulchen ganz sicher keine Geschäfte gemacht. Obwohl, so als Sohn eines Schrotthändlers? Und Spelunken, die mit Fäusten, Fusel und zwielichtigen Gestalten vollgepackt waren, hat er bis an sein Lebensende geliebt.
Frau Schick schüttelt energisch den Kopf. Trotzdem. Nein! Unmöglich. Spinner und Zottelbrüder wie dieser Weihnachtsmann fielen stets in ihr Ressort – Wohltätigkeit. Aber die will der Kerl ja gar nicht.
»Um die Geschäfte kümmert sich mein Patensohn Johannes!«, ruft sie. Schön wär’s, denkt sie. Schön wär’s. Tatsächlich leitet der die Firma bislang nur aus der Ferne und nebenbei. Noch hat der Geschäftsvorstand samt Dussel Pottkämper Prokura.
»Wo finde ich Ihren Patensohn?«
»Meine Güte, ist der aufdringlich«, murmelt Frau Schick entnervt. Laut sagt sie: »In China.«
Reisen ist wirklich eine dumme und völlig unnütze Beschäftigung. Warum muss Johannes Gastvorträge in China halten, wo er doch hier in Köln ihre Firma hat? Noch dazu hält er Vorträge über Wirtschaftsethik. Das wird in China bestimmt ewig dauern, bis die das kapieren. Na, Europa ist auch nicht besser.
»China?«, fragt es hinter der Tür. »Das ist mir jetzt ein bisschen weit.«
Sie sagen es, denkt Frau Schick und nickt zustimmend. Moment, das will sie doch nicht mit diesem durchgedrehten Tippelbruder diskutieren. Nicht einmal in Gedanken. »Ich rufe jetzt die Polizei!« Der Satz wirkt immer.
Vor der Tür seufzt und jault es. Das Seufzen kommt vom Weihnachtsmann, das Jaulen vom Hund. »Frau Schick, bitte machen Sie auf. Ich habe hier auch etwas für Sie«, lockt der Weihnachtsmann.
Hält der sie für blöde wie Rotkäppchen oder für eins von den sieben Geißlein?
»Ich wähle bereits die 112«, behauptet sie. Sie klopft die Taschen des Kimonos, den sie trägt, nach ihrem extragroßen Seniorenhandy ab. Ha, da ist er ja der verdammte Ziegelstein! Sie zieht ihn wie eine Waffe und kann ihn direkt wieder
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