Frau Schick macht blau
wahrscheinlich noch draufzahlen, um Mieter anzulocken. Schäbig, die Welt, einfach nur schäbig.
Schluss mit dem Gedankenlärm, ermahnt er sich. »Wer ohne Freude meditiert, kommt vom Weg ab«, hat ihn der Meister in Kyoto oft ermahnt.
Herberger beschleunigt seinen Schritt und taucht in den Schatten wild wuchernder Schmetterlingsbäume ein. Die lilafarbenen Dolden rosten von Sonnenglut gekrümmt dem Herbst entgegen. Kohlweißlinge umtanzen das Gebüsch, angelockt vom süßlichen Duft der Blüten. Eine Ahnung von Freude steigt in Herberger auf, aber leider auch ein störender Gedanke: Auf einem ganz ähnlichen Brachgrundstück hat gestern Abend Niklas seinen heißgeliebten Zerberus entdeckt.
Verflixt noch eins: Sanzaru!
Soll sich Frau Schick gemeinsam mit dem kleinen Flunkerfuchs über den Esel freuen – wo auch immer sie stecken mag. Wahrscheinlich im Wald. Sie liebt Wälder, hält sie für magische Orte. Und nunmehr auch Schrebergärten.
Lass alle Gedanken los!, ruft Herberger sich in bester Zen-Manier zur Ordnung und löst sich vom Anblick des Baumes. Der wahre Buddhist meidet jede Anhaftung an Gefühle und Leidenschaften. Nein, Gefühle und Leidenschaften interessieren ihn nicht mehr. Ihn interessiert nur sein Weg zum inneren Frieden.
Und der Rückweg nach Köln. Danach eine Dusche, sein Bett und ab morgen wieder Tahiti. Tahiti? Nein, er braucht ein anderes Ziel. Am Schreibtisch hocken und vom Paradies fabulieren ist so ziemlich das Letzte, was ihm guttun würde.
Er entdeckt ein Hinweisschild, das ihm die Richtung von Köln verrät. Immer geradeaus geht’s zu einer Bundesstraße. Linksabbiegern wird hingegen ein Erholungsgebiet empfohlen. Damit kann unmöglich die Gegend gemeint sein, die er gestern Abend kennengelernt hat. Dort sah es alles andere als erholsam aus. Frau Schick haben die Bagger und Baulaternen sogar an den Krieg erinnert.
Warum nur das schon wieder?
Und warum sah sie im Schein von Herrn Engels’ Taschenlampe wieder einmal so verdammt schutzbedürftig aus? Das kennt er schon vom Jakobsweg. Ohne ersichtlichen Grund hat sich die dornige, drachengleiche Frau Schick auch dort bisweilen unvermittelt zurück in das verlassene Kind verwandelt, das sie einmal gewesen sein muss und das man einfach trösten will. Ein trotzig-tapferes kleines Mädchen. Was hat sie in diesem Wald nur erlebt? Und warum macht sie ein Schrebergarten glücklich?
Sanzaru!
Und nein, er wird nicht nach links abbiegen.
Er wird auch keine Esel mehr stehlen.
Oder einreiten.
Das auf gar keinen Fall.
Jedenfalls nicht sofort, nicht jetzt.
Er muss erst einmal zur Ruhe kommen, Nelly vergessen, wieder ganz er selbst werden. Ein Eckehart Gast, der besonnene Entscheidungen zu treffen vermag. Der Gleichmut und Gelassenheit zu seinen Stärken zählen darf und weiß, dass eine gesunde Portion Resignation die verlässlichste Wegzehrung für die Lebensreise ist.
Mit eiserner Entschlossenheit quert Herberger die Kreuzung in Richtung Bundesstraße, zwingt sich zu meditativer Entschleunigung, mindert das Gehtempo, übersteigt achtsam und in Gedanken ganz bei Sanzaru eine lästige Betonkante in der Fahrbahnmitte.
Es muss ihm – verflucht noch eins! – gelingen, nichts zu hören, nichts zu sehen und nichts zu denken.
Und das tut es, bis hektisches Geklingel seine recht flüssige Gehmeditation über einen Gleiskörper abrupt unterbricht. Von rechts rast eine Straßenbahn auf ihn zu, bremst kreischend ab. Herberger macht einen Rückwärtssatz über einen Gleisstrang und die Betonkante, rettet sich über die Fahrbahn zurück auf den Bürgersteig.
Die Bahn beschleunigt ruckelnd. In der Fahrerkabine schüttelt der Zugführer tadelnd den Kopf und lässt einen Zeigefinger in Stirnhöhe rotieren. Zwei dünn besetzte Waggons rauschen durch Herbergers Blickfeld. Leicht benommen registriert er Fahrgastschatten hinter getönten Scheiben. Und dann …
Sein Herz setzt aus, will auf den Zug aufspringen, weil es für einen flüchtigen Moment die Umrisse eines Olivenbäumchens wahrnimmt, das seine kargen Ästchen flehend an eine Glasscheibe presst.
Schon ist er weg, und Herberger ahnt, dass ein langer Weg vor ihm liegt, bis sich die Freude am Meditieren wieder einstellen kann. Vom inneren Frieden ganz zu schweigen. Lege dich nicht mit der Wirklichkeit an , mahnt sein kluger Meister aus Kyoto freundlich. Zen ist keine Weltflucht, sondern vollkommene Konzentration und Annahme von dem, was ist. In dir und in diesem Augenblick.
19.
»Was machst
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