Frau Schick räumt auf
an.
»So, meine Liebe«, wendet sich Frau Schick an Nelly. »Dann wollen wir uns mal mit der Bibel beschäftigen, bis Paolo und die anderen auftauchen. Worum geht es nun in Matthäus sieben, Vers sowieso?«
Nelly gibt ihr die gefundenen Verse über das Richten und das Gerichtetwerden, so gut es geht, auf Deutsch wieder.
Frau Schick scheint über die Sache mit dem Balken im eigenen Auge nicht sehr glücklich zu sein. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was Thekla damit gemeint hat«, brummt sie und lässt ihre Augen über die Weinberghügel schweifen. »Ich habe es mit ihr immer nur gut gemeint und niemandem ein Kuckucksei ins Nest gelegt«, sagt sie dann mit rauer Stimme und abwesendem Blick in weite Ferne. »Ich kann nämlich keine Kinder bekommen, also … Ich konnte keine Kinder bekommen.«
Nelly begreift nicht, worüber und von wem genau Frau Schick spricht, aber sie spürt, wie traurig es ist, weil die Traurigkeit in Frau Schicks Stimme so greifbar und groß ist, dass es schmerzt.
»Haben Sie Kinder?«, fragt Frau Schick.
»Eine Tochter.«
»Eine Tochter hätte ich auch gern gehabt. Paul wollte natürlich erst einmal einen Stammhalter.« Frau Schicks Blick versinkt wieder in der Ferne.
Behutsam legt Nelly eine Hand auf Frau Schicks Arm. Dünn ist der. So herzrührend dünn wie ihre Stimme, als die alte Dame sagt: »Nur mein Körper wollte einfach nicht. Vielleicht wegen der Sache mit den Russen. Danach war er stumm. Sozusagen. Konnte lange nicht die kleinste Berührung ertragen.«
Frau Schick schüttelt Nellys Hand nicht ab. Ob sie sie überhaupt bemerkt?
»Ich hatte nur Thekla«, murmelt Frau Schick und wird sehr klein, als schäme sie sich. »Thekla war doch alles, was mir geblieben ist, um mich auf der Flucht und nach dem Krieg ein bisschen festzuhalten und anzulehnen. Thekla war von Anfang an beides: mein Findelkind und meine beste Freundin. War das alles so verkehrt?«
Was sagt man dazu? Antwortet man mit irgendeiner Binsenweisheit? Nein. Man sagt am besten nichts, entscheidet Nelly. Schon gar nicht sie. Es ist besser, sie hört nur zu und schiebt ihre Hand behutsam in die Hand der alten Dame und drückt sie versuchsweise.
Frau Schick zögert und erwidert mit zaghaftem Druck. Dann strafft sie die Schultern. »Na, für die Vergangenheit gibt der Deibel nuscht! Ich hoffe, unser reizender Baske begreift das auch mal und lässt Bettina und die anderen endlich ziehen.« Sie dreht sich zur Platanenallee um. »Ah, da kommen sie endlich. Und das schwarze Kalb haben sie auch dabei.«
»Welches Kalb?«
»Quijote, wen sonst? Ich habe Herrn Viabadel eben darum gebeten.«
Nelly dreht sich verwirrt um und sieht einen riesigen schwarzen Hund, der mit fliegenden Ohren und heraushängender Zunge auf sie zu rennt.
»Huhu!«, winkt Bettina. »Wir dürfen ihn ein Stück mitnehmen«, ruft sie. Ein wenig atemlos, aber voller Begeisterung kommt sie kurz nach dem Hund bei Nelly und Frau Schick an. »Herr Viabadel sagt, Quijote liebt den Camino und findet immer allein zurück.«
»Tja«, sagt Frau Schick, »und wenn nicht, können Sie ihn ja persönlich zurückbringen, nicht wahr?«
»Das hat Herr Viabadel auch gesagt. Und dabei hätten Sie mal seine Brauen sehen sollen! Hinreißend.«
»Seine Brauen? «, fragt Nelly.
»Ich weiß, es klingt verrückt«, sagt Bettina errötend. »Aber ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der so ausdrucksstarke Augenbrauen hat. Die tanzen geradezu. Und seine Großmutter ist ebenfalls ganz reizend. Sie hat mich zu einem Weinfest in zwei Wochen eingeladen und mir eine Dose Veilchenpastillen geschenkt.«
»Veilchenpastillen? Und die mögen Sie?«, wundert sich Frau Schick.
»Ich liebe Veilchenpastillen.«
32.
Die Mandelbäume triefen, die Weinberge triefen, die Rucksäcke triefen ebenfalls. Erstaunlich, was knapp zwanzig Minuten Regen bewirken können. Erneut geht ein heftiger Schauer in breiten Streifen auf Felder und Wiesen nieder und beugt Gräser, Blumen und Wanderer. In den Wegfurchen gurgelt milchiges Wasser, schwemmt Kalkstein und Schotter auf, schwappt in die Schuhe. Die Sohlen sind schwer von zähem Lehm.
»Und Herberger fragt noch, ob wir auch genug Wasser dabeihaben!«, schimpft Frau Schick, die mit den Tücken ihres nassen Regenponchos kämpft, der sich um ihre Knie wickeln will.
Nelly zieht ihr das Cape glatt und schüttelt den Saum los. »Keine Angst«, sagt sie laut in das Rauschen des Regens hinein. »Paolo meint, dass wir in knapp einer
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