Frau Schick räumt auf
»Gewölbeschub« um sich werfen kann, ist er doch kein Wunder in Menschengestalt! Irgendetwas scheint Herberger aber an sich zu haben, was ältere Damen von Frau Schick bis Hildegard ungemein fasziniert. Vielleicht das narbige Kinn? Egal, Nelly ist und bleibt diese Begeisterung ein Rätsel. Es ist allerdings keins, das sie lösen will, auch wenn Herberger sich nun von der Statik löst und zu unterhaltsameren Themen zurückfindet.
Er weist auf die goldene Treppe, die von einem Portal auf der anderen Seite des Längsschiffs in die Kirche führt. »Im ausgehenden Mittelalter gestattete sie noch den Weg mitten durchs Querschiff und zum Markt auf der anderen Seite«, erzählt Herberger Nelly und den anderen beiden. »Weil die Schaf-und Schweinezüchter die praktische Abkürzung gern nutzten, um ihr liebes, aber stark riechendes Vieh während der Messe quer durch die Kathedrale zu treiben, ließ der Erzbischof sie eines Tages für immer schließen. Und weil der Erzbischof nicht nur streng, sondern auch schlitzohrig war, bestimmte er, dass die Treppe in den heiligen Jakobs-Jahren benutzt werden dürfte. Seither strömen die Touristen wie dereinst die Schafe in Scharen heran, um genau das zu tun. Der kleine Aufpreis kommt inzwischen der Kathedrale zugute.«
Das wäre mal wieder etwas für Frau Schick, denkt Nelly. Ihr haben ja schon die Hühner in Santo Domingo so gefallen. Schade, dass sie nicht hier ist.
Erstaunlicherweise ist sie doch da. »Herberger«, erklingt Frau Schicks Stimme auf einmal in Nellys Rücken, »ab jetzt übernehme ich!«
»Nicht nötig«, sagt der gelassen, »die Führung beende ich gern selbst.«
»Nein, Sie haben keine Zeit, Sie müssen Hundefutter kaufen«, erwidert sie.
»Hundefutter?«
»Wir können Quijote nicht bis Santiago mit Schinkenbrötchen abspeisen.«
»Quijote? Der ist doch bei Bettina, und sie übergibt ihn gleich an Herrn Viabadel.«
»Ich habe anders entschieden«, sagt Frau Schick, ohne weitere Details preiszugeben. »Quijote bleibt bis Santiago bei mir.«
»Frau Schick!«, donnert Herberger. Um seine Fassung ist es offensichtlich geschehen. »Die wenigsten Hotels nehmen Hunde auf, und das Tier ist wirklich zu anstrengend für Sie.«
Ein Kathedralwächter in farbiger Uniform bittet um Silencio .
Während Herbert und Martha sich diskret zu Paolos Gruppe zurückziehen, die nur noch aus Hildegard und Ernst-Theodor besteht, setzt Frau Schick den Disput an der goldenen Treppe zischend, aber mit unverminderter Kraft fort. »Zur Not schlafe ich auch mal unterm Sternenzelt. Hatte ich sowieso vor. Am besten gleich morgen. Und Quijote ist nicht anstrengend, sondern nützlich. Schließlich sehe ich schlecht, und er kennt den Camino.«
»Dieses Kalb ist doch kein Blindenhund, sondern eine gefährliche Stolperfalle«, protestiert Herberger kaum leiser als vorhin.
»Dann brauche ich ihn eben als Wachhund, Sie Schafskopf! Vor allem wenn ich mit Nelly draußen schlafe. Da treibt sich schließlich jede Menge Lumpenpack herum.«
»Draußen?«, wirft Nelly erstaunt ein, wird aber überhört.
40.
»Ist es gestern spät geworden mit Herrn Viabadel?«, fragt Frau Schick am nächsten Morgen.
Bettina und sie sind die ersten Frühstücksgäste in dem weißgekälkten Gewölbekeller, der leicht nach angebranntem Toast und stark nach Kaffee, gebratenem Ei und dem fanatischen Einsatz von Silberputzmittel riecht.
»Nicht sehr spät«, antwortet Bettina wortkarg. Sie steht vor dem Buffet und spießt ein Stück Manchego derart erbarmungslos mit der Gabel auf, dass Frau Schick Mitleid mit dem Käse bekommt. Einer Hand voll Weintrauben, die Bettina sich vom Stiel zupft, ergeht es nicht besser. Sie dreht dem Obst geradezu den Hals um.
»Wie war der Abend denn so?«, fragt Frau Schick irritiert, als Bettina mit ihrem vollgeladenen Teller wieder an den Tisch zurückgekehrt ist.
»Reizend«, knurrt Bettina und köpft mit der Präzision eines Scharfrichters ein Ei.
Das Ei hätte eine Augenbinde verdient, denkt Frau Schick. Vielleicht verdankt sich Bettinas Gesichtsausdruck ja dem recht martialischen Ambiente des Frühstückssalons. Der ist mit blitzenden Rüstungsteilen, Streitwaffen, Kettenhemden und einem Eisenhandschuh dekoriert, der aus der Zeit El Cids stammen soll – daher kommt wohl auch der Geruch von Metallpolitur. Frau Schick kennt das von Gut Pöhlwitz. Da gab es im Morgensalon auch einen Eisenmann. Allerdings rostete Ritter Eduard friedlich vor sich hin und eignete sich vor allem zum
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