Frau Schick räumt auf
Philipp alles andere als schön war. Sie hat seine Porträts in Wien gesehen, findet ihn schafsnasig und sein Habsburgerkinn schuftig, was aber auch an seinem schäbigen Charakter liegen kann, den seine Frau Johanna nie durchschaut hat.
Minuten später begleiten allgemeine Seufzer das Ende der Königin, die aus Liebe zu ihrem untreuen Gemahl wahnsinnig wurde. Nelly seufzt mit und braucht dringend einen Kaffee.
Sie trinkt ihn im Schatten einer nahen Barockkirche. Heiterer, stuckverspielter Barock in Marzipantönen ist für Nellys Laune jetzt genau das Richtige. Sie will Becky eine Postkarte schreiben. Das wird nun wirklich Zeit. Sie rechnet die Tage seit ihrer Ankunft in Bilbao zusammen und ist verblüfft, wie wenig Tage seither vergangen sind. Knapp vier, den heutigen mitgezählt. Gefühlt ergeben diese Tage hingegen eine halbe Ewigkeit. Mit der Zeit hat Nelly auch ihre deutsche Alltagswelt völlig aus den Augen verloren, sogar das eigene Kind.
Egoistin!, blitzt es kurz in ihren Gedanken auf, und Nelly lässt den Kugelschreiber sinken. Das kommt dabei heraus, wenn man nur noch an sich denkt und Liebeskummer und Selbstmitleid pflegt. Aber nein, das stimmt ja gar nicht! Ihr Selbstmitleid hält sich erstaunlich in Grenzen, seit sie den Camino geht. Sie denkt ohnehin meist über andere nach. Das ist gewinnbringender und führt sie doch irgendwann zu sich selbst zurück.
Nelly nimmt noch einen Schluck Kaffee. Nur an Herberger, diesen komischen Vogel, will sie am liebsten gar nicht mehr denken. Aber vielleicht muss sie es auch nicht. Falls Herberger ein Spitzel des Vorstandes ist, wird dieser Johannes von Todden ihn mitsamt der intriganten Auftraggeber erledigen, da ist Nelly sich mit Bettina einig. Bettina ist ebenso erleichtert wie Nelly über Frau Schicks Testamentspläne, und beide sind sich sicher, dass Frau Schick ab sofort keine Krankenberichte mehr über sich verbreiten wird. Den Patensohn nimmt sie nämlich sehr ernst, und sie will offensichtlich auch von ihm ernstgenommen werden.
Gar nicht mehr sicher ist sich Nelly in Sachen Opale und dunkle Verbrechen. Sie hat inzwischen eine mehr als leise Ahnung, dass sie sich gestern in Viana zu Fantastereien über Herberger hat hinreißen lassen. Zum einen, weil sie zu Fantastereien neigt, zum anderen, weil Frau Schicks Freude an verrückten Detektivspielen und Geheimisaufklärung sie angesteckt haben – zumal sie Herberger nicht mag. Seine Vergangenheit – wie geheimnisvoll auch immer sie sein mag – hat sicherlich nichts mit ihrem Opal zu tun. Vielleicht hat der ihn nur an irgendetwas erinnert.
Verstohlen tastet sie nach der Kugel in ihrer Hosentasche. Seit der Kirchenführung von Señor Fadrago weiß sie, dass es in ihrer Gruppe einen Menschen gibt, zu dem das feinziselierte Omnia vincit amor bestens passt. Dieser Mensch ist weder der Ex-Häftling Herberger noch der Herzschurke Javier. Warum dieser Träumer anonym Kugeln verteilt, ist ihr noch unklar, aber das wird sie später klären. Mit Zartgefühl. Und dann wird sie die Kugel zurückgeben.
Sie bestellt einen zweiten Kaffee. Ihre Gedanken wandern zurück zum Jakobsweg. Dieser Weg führt nicht einfach vorwärts nach Santiago und durch spannende Landschaften, er führt vor allem nach innen. Dort ist es wie unterwegs nicht immer schön oder sonnig oder bequem, aber im Wandern wagt man sich selbst in die unheimlichsten Seelenbezirke vor. Frau Schick tut es, Bettina, Paolo, ja selbst Hildegard. Liegt das daran, dass auf dem Camino schon Millionen von Menschen über Hunderte von Jahren genau das getan haben? Man ahnt und fühlt vieles mit, was man gar nicht fühlen will, aber ganz plötzlich auch in sich entdeckt: Wunden, Narben, Abwehr, Hilflosigkeit, Zorn, Schmerz und Rührung. Immer wieder Rührung.
Ach, jetzt hat sie noch immer keine Karte an Becky verfasst. Am Ende schreibt Nelly gleich vier, auf denen sie ihrer Tochter von ihrem spontanen Entschluss berichtet, den Jakobsweg zu gehen. Sie beschreibt ein wenig die Landschaft und nennt die Stationen der kommenden Wegstrecke. Knapp und fröhlich hält sie ihre Worte, und sie wünscht Becky eine ebenso schöne Ferienzeit beim Papa, von ganzem Herzen.
Sie wirft die Karten wenig später in einen gelben Säulenbriefkasten mit traditionellem Schnörkelposthorn und dem modernen Schriftzug Correos für »Post«. Der Schriftzug gibt optisch enorm Gas und verheißt Dynamik, aber Nelly weiß aus leidvoller Berufserfahrung, dass die spanische Post nach wie vor die
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