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Frau Schick räumt auf

Frau Schick räumt auf

Titel: Frau Schick räumt auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Jacobi
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biblischen Figuren, nicht Maria oder der Gekreuzigte, sondern die wuselnden Menschlein, die bunt bemalten Nonnen, die Narren, die Mönche, die Kinder, die Könige, die Mägde, die Bettler und die ungezählten Tiere, die Siloe in die Bibelszenen eingebaut hat. Sie sehen aus, als seien sie gerade eben und mitten in ihrer lebendigsten Bewegung zu Holz erstarrt, um irgendwann einmal mit einem Zauberspruch aus der Erstarrung erlöst zu werden. Ganz wie Dornröschen.
    Nichts und niemand war dem Künstler offenbar zu gering, um festgehalten zu werden. Dieser Künstler war ein Menschenkenner und kein Menschenverächter. Er hat geliebt, was er gesehen und getan hat. Es ist ein Altar, der fröhlich macht. Nelly schlendert mit gebanntem Blick auf den Altaraufsatz zu und will sich schon in eine Kirchenbank drücken, als sie in der ersten Reihe die Gestalt eines alten Mannes in Anzug und Sommerhut erspäht. Zusammengesunken und verloren sitzt er da. Ganz trostlos sieht das aus. Seine Schultern heben und senken sich in einem kurzen Zittern. Friert er? Nein, er unterdrückt ein Schluchzen.
    Nelly will sich zurückziehen, kann den Blick aber noch nicht abwenden. Nanu, das ist ja … Sie kneift die Augen zusammen und erkennt den Hut. Da sitzt der stille Hermann. Seufzend und wie unter größter Anstrengung wendet er sich wieder dem Altaraufsatz zu. In der Hand hält er einen Skizzenblock und einen Bleistift. Vorsichtig setzt er ihn auf das Blatt, dann fährt er plötzlich mit harten, zornigen Strichen darüber. Papier reißt.
    » Nada te turbe – nichts soll dich ängstigen«, singt es weiter vom Band, » nada te espante – nichts soll dich quälen.« Hermann scheint das Gott- und Weltvertrauen abhandengekommen zu sein.
    Nelly will jetzt nicht feige sein. Sie nähert sich zögernd der Bank, in der Hermann sitzt, schlängelt sich hinein und nimmt neben ihm Platz. Der alte Mann bemerkt sie nicht. Nelly wagt einen scheuen Seitenblick. Sie erschrickt angesichts der gequälten Miene ihres sonst so gelassenen Banknachbarn, erkennt eine schmale Tränenspur auf seiner linken Wange. Das passt so gar nicht zu ihm.
    Ihr Blick fällt auf den Block in seiner Hand, auf seine feingegliederten Finger, die Finger eines Uhrmachers, wie sie seit gestern weiß. Mit zornigen Strichen hat Hermann die hauchfeinen Konturen seiner Skizze zerstört, das Papier zerschlitzt.
    Nelly erkennt unter den hässlichen Zickzacklinien einen Ausschnitt des Altaraufsatzes: Handwerker, denen der Künstler winzige Hämmer, Zirkel oder Malerpinsel in die Hand geschnitzt hat. Hermann hat das alles nicht minder liebevoll und präzise kopiert. Sein Name steht in spinnwebfeinen Buchstaben unter der Skizze, darunter ein wie im Zorn hingeworfenes Datum ohne Jahreszahl und die Worte »Altar in …«.
    »Das ist wunderschön«, flüstert Nelly und deutet schüchtern auf die Zeichnung. »Warum haben Sie sie zerstört?«
    Hermann wendet ihr das traurige Gesicht zu, mustert erst sie, dann seine Zeichnung. Er kämpft um einen anderen Gesichtsausdruck; schließlich versucht er es mit einem Lächeln, das nur seine Mundwinkel erreicht. »Guten Morgen, Fräulein …«
    »Nelly.«
    »Richtig, Nelly. Natürlich.« Scheu wendet Hermann den Blick wieder dem Altar zu. »Ein Meisterwerk«, sagt er mit belegter Stimme.
    Nelly nickt und wählt ihre nächsten Worte mit Bedacht. »Es stammt von einem gewissen Gil de Siloe, habe ich gelesen.«
    Hermann wiederholt den Namen: »Gil de Siloe.« Und noch einmal: »Gil de Siloe.« Sein Gesicht hellt sich ein wenig auf. »Ich kenne ihn. Ich kenne ihn gut. Er hat mich immer fasziniert.«
    »Tatsächlich? Ich habe vorher noch nie von ihm gehört«, sagt Nelly aufrichtig.
    »Siloe war ein Meister des gotischen Schnitzhandwerks, ein vergessenes Genie wie so viele Künstler des Mittelalters. Das Werk zählte damals eben mehr als sein Schöpfer. Siloe soll aus Flandern stammen, vielleicht auch aus Frankreich. Man weiß es nicht genau, aber er wurde deutlich von der niederrheinischen Altarkunst beeinflusst.« Hermanns Miene entspannt sich. »Seine wichtigsten Werke hat er in Spanien erschaffen. Vor allem hier, in der Kathedrale von …« Er bricht ab, senkt seinen Blick auf die Zeichnung, seine Unterschrift, das Datum und die Worte »Altar in …«
    »Burgos«, ergänzt Nelly leise.
    »Burgos«, wiederholt Hermann, als höre er den Namen der Stadt zum ersten Mal.
    So war es bei ihrer Großmutter auch, erinnert sich Nelly plötzlich. Am Ende entfielen ihr selbst

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