Frau Schick räumt auf
die Namen ihrer Kinder und Enkelkinder. Sie hat sie vertauscht, vergessen, trotzig immer wieder neu erfragt und am Ende doch aufgeben müssen. Der Tod war dann gnädig; ihr Herz hat schneller versagt als ihr immer unzuverlässigeres Gehirn. Dadurch ist Nellys Großmutter der Verlust aller Würde erspart geblieben: die Windeln, das Wundliegen im Bett, das Gefüttertwerden, das Herumirren in Panik und in einer erschreckend unbekannten Welt und vollständiger Umnachtung.
Hermanns Schultern werden wieder ganz schmal und zittern. Ganz so, als habe er Nellys Gedanken gehört. »Burgos. Das war mir plötzlich entfallen, einfach entfallen.« Er presst den Bleistift zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger und schreibt es hin: Burgos. In spinnbeinzarten, vollendet ziselierten Buchstaben. Jeder einzelne ist ein Kunstwerk, und Nelly sieht bestätigt, was sie seit gestern und seit dem Besuch in der Kirche von Señor Fadrago geahnt hat: Hermann, der die Gravur im dortigen Wachsschädel als »elende Schlamperei« bezeichnet hat, kann nicht nur zeichnen, er kann auch Steine mit kunstvollen Buchstaben verzieren. Doch das ist jetzt nicht wichtig.
»Burgos«, wiederholt Hermann. Seine Schultern sinken erneut herab. »Wie konnte ich das nur wieder vergessen? Ich war doch schon mehrfach hier.« Er blättert in seinem Block. »Hier vorne steht sogar, wie oft. Drei Mal. Ich hatte es extra aufgeschrieben. Ich schreibe mir alles auf. Ich habe mir gestern sogar einen kleinen Stadtplan gemalt, mit dem Weg vom Hotel bis hierher. Ich wollte es alleine schaffen.«
»Das haben Sie ja auch«, sagt Nelly.
Sie schweigen.
»Ich leide an Alzheimer«, sagt Hermann schließlich.
Nelly verkneift sich ein »Ich weiß«. Nichts weiß sie, schon gar nicht, was man darauf antworten, dazu sagen kann. So nickt sie nur.
Hermann betrachtet sie prüfend. »Es ist erst das Anfangsstadium, und die Medikamente, die den Hirnabbau verzögern, schlagen gut an, aber langsam abzusterben, wissend zu vergehen, sich mit dem eigenen Hirn gleichsam selbst aufzulösen, erst schrittweise, dann schubweise – das ist grauenhaft. Grauenhaft, Fräulein …«
»Nelly.«
Hermann nickt resigniert. »Nelly, ja.« Er schaut auf seine Hände. »Martha und ich sind immer gerne gereist. Es hat uns gutgetan, aber bald wird es mich wohl nur noch überfordern und verängstigen. Bald …« Er bricht ab. »Erinnern Sie sich an den Abschiedsbrief von Amerikas Expräsident Ronald Reagan, nachdem man bei ihm Alzheimer diagnostiziert hat? Ich habe ihn nie gemocht, aber ich bin dankbar für seine Abschiedsworte an die Welt über seine ›Reise in den Sonnenuntergang seines Lebens‹. Der Tod als Reise …«
Hermann schmeckt dem Gedanken nach. »Martha und ich gehen den Camino, um Erinnerungen aufzufrischen. Ich möchte möglichst lichte Bilder von meinem und unserem Leben in meiner Seele verankern, bevor mich das Dunkel verschlingt.«
Nelly denkt über passende Worte, eine Erwiderung nach. Sie findet keine. Es gibt kein Heilmittel gegen diese Krankheit und keine passenden Worte.
»Meine größte Angst«, fährt Hermann fort, »ist nicht das vollkommene Vergessen, vielleicht ist das sogar einmal ein Segen. Was ich fürchte, ist, dass ich Martha zur Last werde, dass ich erst die Beherrschung über meine Körperfunktionen verlieren werde und dann über meine Gefühle, dass ich ausfällig werde oder gar handgreiflich. Im letzten Stadium sind viele Alzheimerpatienten unberechenbar, heißt es.«
»Meine Großmutter«, sagt Nelly und schluckt, »meine Großmutter war bis zum Ende die reine Güte. So wie sie es ihr Leben lang gewesen ist, und eins hat sie nie verloren: ihr einzigartiges Lächeln.«
»Sie hatte auch …«
Nelly nickt. Natürlich hat sie in dem Heim, in dem ihre Großmutter ihre letzten Wochen verlebte, auch andere Fälle gesehen, aber sie will nicht glauben, dass ein Mann wie Hermann dazugehören wird. Ein Mann, der mit einer Frau wie Martha an seiner Seite und voll Liebe von der Welt Abschied nimmt. Wissen kann sie das nicht, nur hoffen und glauben und jetzt mit Hermann hier einen Moment lang sitzen bleiben.
»Ich … Ich bin nicht immer so verwirrt«, sagt Hermann. »Noch überwiegen die guten, klaren Tage. Aber manche, so wie der heutige, beginnen mit erschreckenden Aussetzern.« Er wirft einen Blick auf den Block. »Zeichnen hilft mir. Meine Finger haben noch nicht verlernt, wie das geht. Wissen Sie, ich habe mir immer gewünscht, mich im Alter ganz der Kunst zu widmen,
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