Frau Schick räumt auf
Geschwindigkeit über eine Autobahn, die manchmal parallel zum Camino verläuft. Ihr Fahrtziel, das hat Javier versprochen, liegt aber direkt am Jakobsweg und wird Nelly mit allem, was geschehen ist, und dem, was bislang nicht geschehen ist, versöhnen. Ihre »Guck mal«-Erlebnisse beschränken sich momentan bedauerlicherweise auf braune Hinweisschilder, die die Höhepunkte des Jakobsweges anpreisen. Orte mit Zaubernamen wie Frómista und Sahagún fliegen vorbei. Vor einer halben Stunde haben sie León passiert und statt der schönsten Kirchenfenster von Spanien, von denen Herberger in Burgos so geschwärmt hat, nur schweflig qualmende Industrieanlagen gesehen.
Nelly unterdrückt ein Seufzen. Immerhin fahren sie nun durch offene, schöne und abwechslungsreiche Landschaft. Auf Kirchtürmen thronen Storchennester. Mit langgezogenem Hals und ausgestreckten Beinen kreisen die lustigen Vögel im sommerlichen Blau. Nelly genießt ihren Anblick, denn Störche sind ein uraltes Symbol für segensreiche Erneuerung, daher auch die Mär, sie brächten die Kinder. Am Horizont leuchten schneebedeckte Berge. Sie sind die Vorboten der letzten großen Pässe, die die Jakobspilger vor Santiago noch überwinden müssen. Der letzte ist wegen der enormen Höhenunterschiede besonders gefürchtet. Er steigt bis auf tausenddreihundert Meter. Von seinem Gipfel sind es noch etwa hundertsiebzig Kilometer bis Santiago.
Ob Paolos Gruppe diesen und die anderen Pässe mit dem Bus nehmen wird? Hätte Nelly die Wahl, würde sie laufen. Wenigstens die Anhöhe zum Cruz de Ferro , den höchsten Punkt des Jakobswegs, würde sie erklimmen. Schließlich hat Herberger gesagt, man müsse sich das Eisenkreuz erwandern, keuchend, schwitzend, fluchend und nach Atem ringend, wenn man das simple Symbol inmitten eines Geröllhaufens aus abgeworfenen Sorgensteinen begreifen wolle.
Ob Javier ihr das Kreuz zeigen wird?
» Mañana«, hat er gesagt und versprochen, dass das, was er ihr zu zeigen habe, besser sei, als Sorgensteine oder Glücksbringer abzuwerfen.
Die Schilder verweisen auf Astorga und einen Bischofspalast des skurrilen Architekten Gaudí. Oh, Nelly liebt Gaudís irrwitzige Jugendstilfantasien, die bauchigen Balkone, die wellenschlagenden Fassaden und die Häuser, die von gigantischen Blumenkuppeln wie aus Alice’ Wunderland gekrönt sind. Was Frau Schick wohl dazu sagen würde? Der Name Gaudí wäre für sie bestimmt eine unwiderstehliche Steilvorlage.
»Lass uns doch eine kurze Pause in Astorga machen«, bittet Nelly spontan, aber schüchterner, als ihr lieb ist. Ihr Mut zum Glücklichsein hat sich schon ein wenig verflüchtigt.
Javier wendet ihr sein Gesicht zu und lächelt. » No. Keine Umwege mehr. Es geht direkt ins Paradies. Ich schwöre.« Er schenkt ihr einen feurigen Blick, löst seine rechte Hand vom Lenkrad und will sie ihr aufs Knie legen.
Nelly schiebt die Hand fort und schüttelt den Kopf. Anfassen und Küssen hat sie ihm verboten. Man kann es mit dem Mut auch übertreiben. Erst will sie mit eigenen Augen das Paradies sehen, das Javier ihr unter dem Mond von San Anton mit glühenden Worten versprochen hat und zu dem angeblich sie ihn inspiriert und ermutigt hat. Dieses Paradies hat allerdings nicht den Ausschlag dafür gegeben, dass sie jetzt hier sitzt. Nein, dafür waren allein Frau Schicks Schummeleien verantwortlich. Nelly mag die alte Dame wirklich gern, sehr gern, aber dass Frau Schick ihr Javiers Versuche, telefonisch Kontakt mit ihr aufzunehmen, verschwiegen hat, und das seit Pamplona, ist ein bisschen viel Fürsorge und außerdem die falsche. Sie mag ja naiv sein, aber sie ist bestimmt kein Kind mehr.
Auch Javiers Jugendsünden in San Bol wären kein Grund für eine Kontaktsperre. Kiffen, saufen und den wilden Hausbesetzer spielen, weil der reiche Papa einen unbedingt in maßgeschneiderte Anzüge und in die Rolle des knallharten Geschäftsmannes pressen, das Kunststudium und die Malerei verbieten und sogar die Ehefrau vorschreiben will, so was kann vorkommen. Außerdem sind die Phase »wilder Mann« und Javiers blaue Periode fast zwanzig Jahre her.
Javier hat sich schon vor fünfzehn Jahren mit seinem Vater versöhnt und ist seither Juniorchef der Bodegas Tosantos. Das hat Papa Tosantos aber nicht daran gehindert, dem Sohn eine mit viel Liebe eingerichtete Künstlerbar in Bilbao sehr übel zu nehmen. Javier hatte sie heimlich eröffnet, um sich zumindest einen Bruchstück seiner Träume vom Leben als Maler zu erfüllen
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