Frau Schick räumt auf
dornig genug gehabt in ihrem Leben, das sieht man doch auf den ersten Blick. Da muss man doch nicht noch nachhelfen. Hier macht ja bald niemand mehr, was sie will. Dabei will sie doch immer nur das Beste. Und das werden auch alle bekommen, so wahr sie Frau Schick heißt. Und Röschen.
Frau Schick lässt sich zurück ins Kissen sinken. Immerhin weiß Herberger, wo es langgeht. Tja, und dass er Nelly ein wenig ärgern will, ist letztlich auch nicht schlecht. Das zeigt doch, dass die ihm keinesfalls so gleichgültig ist, wie er immer tut. Ja, diese Variante gibt es auch, wie Frau Schick aus eigener Erfahrung weiß. Und wenn aus dem Happy End nichts werden sollte, ist das auch nicht schlimm. Sie hat nämlich neue Pläne für Nelly.
Sie angelt nach ihrem Rucksack, hebt ihn aufs Bett und sucht den Brief und die Rose hervor. Bettina hat sie in ihre Brotdose gelegt und mit sehr viel Papier umwickelt, damit die welken Blätter nicht zerbröseln. Behutsam packt Frau Schick sie aus und schnuppert daran.
Mit der Rose nah am Herzen liest sie Theklas Brief noch einmal. Diesmal muss sie nicht weinen, sondern lächeln. Thekla wird auch gelächelt haben, als sie das von der Teestunde unterm Rosenbusch ohne Zucker geschrieben hat.
»Die werden wir nachholen«, flüstert Frau Schick in die Stille des Zimmers. »Und für Paulchen legen wir auch ein Gedeck auf. Jawohl.« Und dann wird es fast so sein wie damals auf Pöhlwitz, wenn Röschen im Trollbusch mit ihrer allerersten Thekla und ihren Kaninchen Teestunde gehalten hat. Bei Rosinenkuchen von der Schemutat und Holunderlimonade.
Ob Johannes das verstehen wird? Oder wird er sie für eine schrullige alte Tante halten? Soll er mal. Das ist sie ja auch. Hauptsache, er ist kein Grüßaugust. Aber das kann er ja nicht sein, bei den Eltern!
Sie packt die Rose und den Brief wieder ein. Dann tastet sie nach dem Gedichtband, den Bettina ihr auf den Nachttisch gelegt hat, ein sehr schmales Bändchen. Lebensreisen – Lebenswaisen heißt er. Aha, hm. Ein bisschen sehr poetisch.
Sie wird dennoch einmal schauen, was drin steht, und zwar nach Art der Schemutat. Die hat an jedem Morgen, den Gott für sie werden ließ, Bibelorakel gespielt. Augen zu, Buch aufklappen und dann lesen, was einem ins Auge springt. So macht Frau Schick das jetzt ebenfalls und liest den Satz, der sie zuerst anspringt.
»Am Ende unserer Suche werden wir wieder da stehen, wo wir anfingen, und wir werden den Ort zum ersten Mal sehen. T. S. Eliot.«
Ja, so ist das. Frau Schick nickt wissend. Haargenau so. Und damit gute Nacht. Sie knipst das Licht aus. Und zwei Minuten später wieder an.
Ihr ist etwas eingefallen. Besser aufgefallen. Wie konnte Johannes sich so sicher sein, dass sie das Pilgerpostfach in San Anton entdecken würde? Sie hätte ja auch genauso gut daran vorbeimarschieren können. Nein, das konnte sie nicht. Weil Hope da war und sie darauf hingewiesen hat.
Herrje, warum hat sie das nur übersehen?
Hope war keinesfalls rein zufällig in San Anton. Johannes muss sie beauftragt haben, auf die Wandergruppe zu warten. Das Reiseprogramm mit allen Zwischenstationen wird er von Thekla bekommen haben. Ja, so könnte es sein. Und Hope war sicherlich gern zu einem Akt mysteriöser Nächstenliebe im Namen der Engel von Atlantis bereit.
Verflixt und zugenäht, warum hat sie sich die nicht vorgeknöpft? Wo hatte sie bloß ihren Kopf? Bei Thekla im Himmel und Nelly auf Erden. Hach, wie ärgerlich!
Nun, was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben, beschließt Frau Schick. Wenn Johannes sich so viel Mühe gibt, ihr Theklas Briefe zukommen zu lassen, dann wird sie ihn auf dem weiteren Weg schon treffen. Wie sagte Hope noch zum Abschied? »Auf dem Camino sieht man sich immer zwei Mal.«
51.
Zur Hölle mit Javier. Zur Hölle, zur Hölle, zur Hölle!
Nelly kämpft mit dem Dornengebüsch. Nur gut, dass sie Javiers Knüppel mitgenommen hat. Da kann sie nach diesem Idioten jetzt das Gebüsch vertrimmen. Sie haut auf Schlehenfangarme und Weißdorntentakel ein, hebt stachelige Berberitzentriebe an und schleudert sie in die Luft. Sie schnellen peitschend wieder herab und punktieren wie mit Zähnen ihren Rücken.
Aua, verdammt noch mal! Und an allem ist nur einer schuld: Javier, der Mistkerl. Dornen verhaken sich in Nellys Jeans, dringen vor bis in die Waden. Gegen diesen Buschkampf war ihr Irrweg durch den Wald von Irati ein fröhlicher Sonntagsspaziergang. Immerhin weiß sie diesmal, wo sie ist und wohin sie
Weitere Kostenlose Bücher