Frau Schick räumt auf
muss. Ungefähr. Nach Westen, zurück auf den Camino. Wo Westen ist, zeigt ihr die Sonne, die ihren Abendlauf beginnt. Hoffentlich lässt sie sich Zeit, denn im Dunkeln möchte Nelly hier nicht weitergehen.
Ach was, das werde ich nicht müssen. Der Camino kann nicht mehr weit sein, beruhigt sie sich. Wenigstens hat sie diesmal ihren Rucksack dabei. Nur leider kein Handy, nicht einmal eines aus der Steinzeit. Egal, sie wird sich im nächsten Ort einfach ein Taxi nehmen. Selbst in Foncebadón wurde dafür und für den Gepäcktransport von Etappe zu Etappe geworben.
Nelly ist es gleichgültig, wie viel es sie kostet, zurück nach León zu kommen. Sie will zu ihrer Gruppe. Zu den Menschen, die ihr schon am Morgen mächtig gefehlt haben. Zu den »gewöhnlichen Idioten«, wie Javier sie nennen würde. Sie ist gern ein gewöhnlicher Idiot, viel lieber als die Muse eines außergewöhnlichen Mistkerls, der sich für das größte Geschenk Gottes an die Menschheit hält und einen Camino für Erwählte in die Landschaft setzen will. Sie will dahin zurück, wo sie hingehört und wo Javier niemals etwas zu suchen hatte.
Was hat er sich nur dabei gedacht, ihr Leben ganz für das seine zu vereinnahmen? Samt Exmann und guten Kontakten, aber ohne Becky.
»Jetzt, wo sie bei ihrem Vater wohnt, hast du endlich alle Zeit der Welt.« Bei diesem Satz hat er sie an sich gezogen. Ganz fest. Viel zu fest. Sie hat ihre rechte Hand aus seinem Eisengriff befreit und ihm eine Ohrfeige verpasst. Eine zaghafte.
Er hat im Reflex zurückgeschlagen, und an diesem Punkt hat sie ohne nachzudenken zu Javiers Wanderstab gegriffen. Und richtig fest zugeschlagen.
Erschöpft lässt Nelly den schweren Holzprügel sinken. Sie hat sich den Weg in eine winzige Lichtung gebahnt, nicht mehr als ein Loch im Astwerk. Sie umklammert den Stab, stützt sich ab und beugt sich nach vorn, um tief Luft zu holen. Schweiß rinnt ihr über Stirn und Nacken, von den Achselhöhlen hinab zu ihrem Bauch. Wunderbar, einfach wunderbar. Von oben brennt noch immer die Sonne. Ausgerechnet jetzt entscheidet sich ihr Körper für eine Hitzewallung.
Wechseljahre sind wirklich etwas vollkommen Unnützes, denkt sie grimmig. Obwohl … Eine Hitzewelle war es auch, die ihr die Kraft geschenkt hat, nach Javiers selbstbegeistertem Vortrag über sich, seine Pläne vom Dorf der Erwählten und seine Künstlerträume ganz auf Kosten von Patenonkeln, von Papa und von Nellys Wenigkeit einfach auszuholen und zuzuschlagen. Das alles kam ihr so verdächtig bekannt vor. Ja, diesen Albtraum hat sie schon einmal erlebt. Mit Jörg und mit der Folge, dass ihr Seelenfrieden über Jahre ruiniert war.
Javiers Unschuldsmiene und sein flackernder Verführerblick – das war zu viel. Das war glatt noch eine Steigerung zu Jörgs Ichbezogenheit. Nelly hat sich noch nie so zornig erlebt. So zornig muss sie schon verdammt lange gewesen sein. Irgendwo tief unten, wo das Herz zur Mördergrube wird und wo sie sich nie hingewagt hat. Nein, sie hat immer einen Bogen drum herumgemacht so wie um Schießfilme und Killerthriller. Hass ist so hässlich.
Nelly richtet sich auf, wischt sich den Schweiß von der Stirn, will wieder mit dem Stock ausholen und Büsche verdreschen, aber mit einem Mal fehlt ihr die Kraft. Der Zorn verraucht und schleppt sich wie ein abgekämpftes Monster in seine Höhle zurück. Jetzt ist wieder Platz für alte Dämonen. Da kommen der Schmerz, der diesmal Javiers Gestalt angenommen hat, und das Selbstmitleid. Das sieht immer gleich aus: nach verheulter Nelly.
Ach was, ach was! Schmerz und Selbstmitleid können ihr momentan gestohlen bleiben. Die kennt sie zur Genüge.
Und schon sind sie verschwunden.
Ohne Schmerz und Zähneklappern, ohne Zetern und Gejammer sieht sich Nelly plötzlich einem viel gruseligeren Schreckgespenst ausgesetzt: der Wahrheit, einer Nelly, die vorhin nicht nur einem selbstverliebten Sonnengott, sondern auch sich selbst ins Gesicht geblickt und beide kräftig geohrfeigt hat. Sie hat es immer als Psychologengeschwätz abgetan und nicht hören wollen, wenn Ricarda angedeutet hat, dass sich in der Liebe jeder sucht, was ihm dringend fehlt, und dass Partnerwahl kein Zufall ist. Jetzt erkennt sie: Was ihr ganz dringend fehlt und Javier in höchst ungesundem Maß besitzt, sind Stolz und der Mut, sich selbst zur wichtigsten Baustelle des eigenen Lebens zu machen. Nein, nicht zum Mittelpunkt des Universums wie ein Javier oder ein Jörg, für den die ganze Welt brav Papa und
Weitere Kostenlose Bücher