Frau Schick räumt auf
und Nelly will nicht Seifenschaum schmecken und riechen, sondern Javier.
Sie könnte sich im Bad nach dem Abschminken noch rasch die Zähne putzen – nach dem ganzen Wein, den sie vorher wird kosten müssen – und sich umziehen. Frei nach James Bond: »Ich schlüpf nur schnell in etwas Bequemes.«
Nein, nein, nein, völlig falscher Film! Zu aufdringlich und zu schade um das zauberhafte Kostüm. Überhaupt verträgt die Schlafzimmerszene keinen Text, höchstens ein bisschen Hintergrundmusik. Das könnte Sinatra übernehmen. Lovers at first sight, in love forever. It turned out so right for strangers in the night. Dubidubidudadada. Das »Dubbidubida« ist ein bisschen arg blöd. »Jetzt hab ich einen Ohrwurm, Mama«, hätte Klein-Becky früher geschimpft.
Muss ihr jetzt auch noch ihr Kind dazwischenfunken? Nelly tappt zu ihrem CD-Player und schaltet ihn ein. Gustav Mahlers Fünfte flutet den Raum. Sie drückt auf Stopp. Brrr, viel zu unheilschwanger und morbide! Sie will doch nicht Thomas Manns Tod in Venedig nachspielen und wie der herzkranke Held Achenbach irgendwann den letzten Schnaufer tun. In Viscontis Filmfassung rinnt dem herzkranken Helden neben Tränen und Todesschweiß am Ende schwarze Haartönung über das kalkweiße Gesicht. Das war mal Jörgs Lieblingsfilm, als er noch ein Brandauer werden wollte. Von ergreifenden Sterbeszenen konnte er gar nicht genug bekommen.
Aber: Erstens ist sie kein Mann, zweitens ist sie nicht halbtot und verkappt homosexuell, und drittens ist Javier nur ein klitzekleines bisschen jünger als sie. Acht Jahre, was macht das schon? Überhaupt nichts. » No es nada« , sagt er selbst. Optisch schon gar nicht, schmeichelt der Schlafzimmerspiegel, immerhin sind ihre Haare nur hell gesträhnt, nicht schwarz getönt. Zur Hölle mit Visconti, Gustav Mahler und Thomas Mann! Egal, wie ergreifend das alles ist. Nelly übt nicht für eine Todesszene, sondern für einen Liebesfilm.
Genau, und jetzt Augen zu und zurück zum Himmelbett!
Javier presst sie an seine markige Brust, sie ertrinkt in seinem ersten Kuss, zerfließt im Meer wogender Leidenschaft und so weiter und so weiter. Nelly drückt auf mentalen Schnelldurchlauf. Da, jetzt hat sie das richtige Bild! Er streift ihr die Jacke von den Schultern, schiebt die Träger ihres Seidentops herab, küsst ihre nackte Haut.
Nelly notiert sich in Gedanken, dass sie heute Abend Bodylotion auftragen muss. Eine parfümfreie. Es soll ja so natürlich wie möglich vonstattengehen.
Schulterküsse die zweite. Nellys Nacken kribbelt. Ihr Atem geht rascher, und dann entschlüpft ihr tatsächlich ein Seufzer. Der Augenblick, an dem sie den Rock elegant loswerden sollte, ist erreicht. Das wiederum will geübt sein. Einander einfach die Kleider vom Leib zu reißen und übereinander herzufallen wäre zwar ein Ausdruck wilder Leidenschaft, aber definitiv unreif. Ein Mann wie er will sozusagen dekantiert sein, und sie erst recht. Wo bleibt eigentlich Ricarda mit dem Cava? Egal.
Nelly versucht einen dezenten Hüftschwung, schiebt ein wenig an dem wundervollen Rock, fühlt ihn an sich hinabgleiten und tritt einen Schritt auf das imaginäre Himmelbett zu. Bevor sie verstanden hat, was geschieht, verliert sie die Balance, gerät ins Trudeln und knallt gegen den Schrankspiegel.
»Bist du hingefallen?«, schreit Ricarda aus der Küche.
Mist!
»Nein!« Nelly reißt die Augen auf und erschrickt. Der Rock hängt über ihren Knien wie eine Trauerflagge auf Halbmast. Der Saum ist zu eng. Nicht umsonst heißt das Ding Bleistiftrock. Man muss schon mit dem Naturtalent einer Mata Hari gesegnet sein, um sich da mal eben herauszuschlängeln.
Nelly seufzt und zieht den Rock verschämt nach oben. Was macht sie hier bloß? Für einen Moment fühlt sie sich so, wie der Spiegel sie eben gezeigt hat: lächerlich.
Wenn man als Erwachsener hinfällt und sich die Knie aufschürft, merkt man, wie klein man in jeder Phase seines Lebens sein kann. Auch wenn man sich gerade so überaus jung fühlt, heißt das nicht, dass man es tatsächlich ist oder dass man versäumtes Glück nachholen kann. Jahrelang hat es nur Mama Nelly und Nelly, das Arbeitstier, gegeben – zwei Personen, die eines verband: Effizienz. Effizienz ist erwachsen, aber aufreibend und kein Rezept fürs Glück. Ebenso wenig wie extern gekühlte Dieselmotoren, Schulpflegschaftssitzungen, Läuseplagen auf dem Kopf der Tochter, Masern, Mathe-Nachhilfe in Sinus und Cosinus oder Streit um die Bettgehzeit oder
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