Frau Schick räumt auf
…
Die Liste ihrer Lasten erscheint Nelly plötzlich wie eine endlose Aneinanderreihung von Banalitäten. Die graue Dame Melancholie nimmt neben ihr auf der Bettkante Platz. Sie kommt gelegentlich zu Besuch und umwebt Nelly schweigend mit Schwermut und Einsamkeit. Seit dem Beginn von Nellys Wechseljahren häufen sich die Gastauftritte dieser ungebetenen Besucherin.
Egal wie verliebt ich bin, eine Familie werde ich nie mehr haben, denkt Nelly. Es schmerzt, obwohl sie doch ein Kind hat. Nein, auch das ist vorbei, denn Becky möchte lieber bei ihrem Vater sein. Und statt einer Ehe zu zweit, einer echten Partnerschaft, hat sie eine Beziehung mit sich selbst geführt. Eine, in der sich alle unangenehmen Pflichten und Sorgen auf ihren Schultern türmten, ohne dass es ein Anrecht auf Austausch, Liebe und Leidenschaft oder wenigstens auf regelmäßigen Routinesex gegeben hätte. Aber wäre sie mit Ehemann glücklich gewesen?
Nelly spielt es in Gedanken durch. Mit einem halbwegs erträglichen Ehemann an ihrer Seite würde sie sich wohl wie ihre verheirateten Freundinnen Gedanken über ein etwas flotteres und unabhängigeres Leben machen. Sie und ihr Ehemann würden gemeinsam den Abschied von der kleinen Becky und den unvermeidlichen Beginn des Lebensherbstes betrauern oder sich dagegen aufbäumen und ein wenig an ihrer nach hinten verschobenen Selbstentfaltung arbeiten. Sie würde sich über seine Schlafgeräusche ärgern und die ihren unterschätzen. Vielleicht würde sie mit ihrem Mann – der freilich nicht Jörg wäre – jetzt über eine Weltreise nachdenken, über den Besuch eines Tanz- oder Kochkurses oder eine gemeinsame Glyx-Diät. Vielleicht würde sie auch heimlich eine Affäre haben.
Nein, keine Affäre. Eher würde sie bei Ikea den Waschtisch »Godmorgon« kaufen oder praktische Schubladeneinsätze, die ein vollumfänglich geordnetes Leben verheißen. Nebenher würde sie Gedichte und Bücher von Eckehart Tolle lesen und mit ihm auf die Erkenntnis hoffen, dass nach der Einstellung des irdischen Geschäftsbetriebs nicht einfach Schluss ist. Gut möglich aber auch, dass sie mit einem missgelaunten Mann missgelaunt Hartz-IV-Anträge ausfüllen würde.
Nelly schubst die Melancholie vom Bett. Sie muss endlich aufhören, so viel über ihr verpfuschtes Leben nachzudenken. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass die romantische, unsortierte, alles hoffende Nelly einen Mann für sich begeistern kann. Einen wirklich vielversprechenden Mann. Vielversprechend ist allerdings kein schönes Wort, dafür hat sie Jörg auch einmal gehalten.
Und Javier? Selbst wenn er halten kann, was sie sich von ihm erhofft, wohnt er tausendvierhundert Kilometer weit weg, in Pamplona, was trotz Flugverbindung eine Wochenendbeziehung unwahrscheinlich macht.
Nelly, Nelly, Nelly! Was macht dich nur so zaghaft? »Finde das schmale Tor, das zum Leben führt. Es heißt Jetzt«, schreibt Eckehart Tolle, der unter ihrem Bett liegt, und damit hat der Mann zweifelsohne recht.
»Und was will ich jetzt?«, fragt Nelly mit gerecktem Kinn ihr Spiegelbild. Eigentlich ist es ganz einfach: Sie will Javier und Pamplona und ein neues Leben. Dafür muss sie morgen nur geschickt aus dem Rock aussteigen. Das kann sie üben! Und zwar am besten in High Heels. Wo bleiben nur die neuen Schuhe?
7.
Wolfhart Herberger steigt in die Bremsen, schaltet zurück, entdeckt vor sich die angekündigte Parkbucht, hält darauf zu und bringt den Jaguar kurz vor einer Begrenzungsmauer zum Stehen. Mit einem Satz ist er aus dem Wagen und reißt die hintere Tür auf.
Stille. Entsetzliche Stille.
Dann ein Keuchen und Schnaufen. Das kommt aber nicht von Frau Schick, sondern von einem Grüppchen erschöpfter Rucksackwanderer, die auf dem Mäuerchen kauern und Plastikwasserflaschen umklammern. Ein Schild mit Kamerasymbol wirbt für den Panoramablick auf die letzte Passhöhe vor Roncesvalles, auf der Ritter Roland im Kampf gegen die Mauren fiel. Ein Meer aus Hügeln und Felsen wellt sich von Norden und den graublauen Pyrenäen her talwärts.
»Bei solch einem Anblick bekommt man gleich zu Anfang des Camino eine Ahnung davon, was Ewigkeit bedeutet«, verkündet einer der Wanderer feierlich und meint die Bergwelt.
»Aber nur, wenn man die Pyrenäen zu Fuß überquert hat«, wirft seine Begleiterin mit einem schmalen Blick in Richtung Jaguar ein. »So, wie sich das gehört.«
»Wir brauchen einen Arzt!«, schreit Herberger und will sich in den Fond schlängeln, um eine
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