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Frau Schick räumt auf

Frau Schick räumt auf

Titel: Frau Schick räumt auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Jacobi
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am liebsten mag. Ich bin kein ungläubiger Thomas. Ich meine, ich bin es doch. Ach verdammt!«
    »Ich bin erstaunt, wie lebendig Ihr Bibelwissen ist«, schnappt Bettina nach diesem Leckerbissen.
    »Ich bin gelernte Preußin und verlernte Protestantin. Mehr nicht.«
    Bettina legt den Kopf schräg, selbstzufrieden wie eine Katze, die einen unbewachten Topf Sahne entdeckt hat. »Frau Schick, Sie sind doch nicht ohne Grund hier, und der Camino ist mehr als eine nette Kulisse für Spiritualität. Öffnen Sie sich dem Weg, der Schöpfung und dem Schöpfer, dann wird er auch zu Ihnen sprechen. Glauben ist ein Geschenk, Sie müssen es nur annehmen.«
    Herrje, das wird ja immer schlimmer! Wie deutlich muss sie noch werden? »Ich will nichts geschenkt haben. Was nichts kostet, ist auch nichts, und außerdem spreche ich nicht mit Lügnern, Betrügern und Massenmördern.«
    Hildegard hüpft mit interessiertem Blick und auf einem Bein auf sie zu. Offensichtlich hat sie sich Blasen gelaufen und musste deswegen ihre Schuhe ausziehen. Bettina reißt die Augen auf. Sehr blaue Augen, zu blaue Augen, findet Frau Schick. Damit hat sie früher sicher einen hinreißend verwunderten Puppenblick hinbekommen. Thekla konnte das auch. Nur besser, weil dezenter. Schlange!
    »Wen meinen Sie mit Massenmörder? «, fragt Bettina entsetzt.
    Hildegard spitzt interessiert die Ohren und zückt gedanklich anscheinend ihr rotes Zensurenbüchlein. Das ist hier doch keine Stunde in Katechismus! Zornige Hitze überzieht Frau Schicks Brust wie Sonnenbrand. »Gott«, zürnt sie. »Wen sonst! Wenn er die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, liegt der Verdacht doch verdammt nahe, oder?«
    Bettina reißt die Augen noch ein Stückchen mehr auf. Die sind wirklich ganz unerträglich himmelblau. Blond wie Thekla war Bettina wohl auch mal, ein richtiger Rauschgoldengel. Das hat aber offenbar nicht gereicht, um einen Mann abzubekommen, weshalb Bettina allem Anschein nach inzwischen alle erotischen Ambitionen gegen esoterische eingetauscht hat. Gott – noch dazu einer, der in jedem Blatt sitzt – kann ihr schließlich weder weglaufen noch sie betrügen oder sonst wie enttäuschen und versteht alles. Thekla war in ihren späten Jahren auch so. Die ist sogar zum Katholizismus konvertiert. Hat es ihren Gott gnädig gestimmt? Nein.
    »Ernst-Theodor, hast du das gehört?«, kreischt Hildegard auf einem Bein hüpfend und mit einem Schuh in der Hand.
    Bettina hebt die Rechte, schlägt ein Kreuz und lächelt tapfer. »Frau Schick, das ist doch nicht Ihr Ernst! Sonst wären Sie nicht hier.«
    Frau Schick rammt einen Wanderstock in die Erde und wendet sich demonstrativ ab. »Es ist mein blutiger Ernst, und jetzt will ich endlich Bohnensuppe.«
    Das ist gelogen. Beides. Erstens will sie wegen der damit verbundenen Darmstreiche keine Bohnensuppe. Zweitens will sie in keine Kirche, die so lieblich und einladend ausschaut, als gäbe es kein Leid, kein Elend und keinen Grund für Hass auf der Welt. Als gäbe es weder ihre Erinnerungen noch ihren Schmerz. Das macht ihr altes Herz nicht mit. Außerdem kämen Gefühle hoch, von denen das bisschen Jakobsweg eben ihr einen Vorgeschmack gegeben hat. Gefühle, die schwerer verdaulich sind als Bohnen und dumme Fragen wie: »Thekla, warum hast du mich verlassen?«
    Von Gott einmal ganz zu schweigen.
    Der hat Frau Schick irgendwo zwischen Ostpreußen und Köln im Stich gelassen und Millionen andere auch und tut das verlässlich immer wieder. Gott hat erst ihre Mutter sterben lassen, dann ihre Brüder und ihren Vater. Und auf der Flucht auch noch ihre Amme, den ersten und allerletzten Halt in der Kindheit. Die unvergleichliche Schemutat ist stehend gestorben, eingezwängt zwischen Hunderten von Menschen, die in einem verschlossenen, abgedunkelten Viehwaggon acht Tage von Königsberg bis Elbing gerattert sind. Rattatatarattatatarattatata. Andere sind davon irre geworden oder haben ihren eigenen Urin getrunken. Babys sind zu Dutzenden erfroren. Babys! Die haben die letzten Braungetuchten den schreienden Müttern an einer Bahnstation im Nirgendwo aus den Armen gerissen und wie Plunder auf Panjewagen geworfen und weggekarrt.
    Babys. Die hatten doch an nichts Schuld, an gar nichts, nichts, nichts! Frau Schicks Brust krampft sich zusammen, hektisch wie ein ausgesetztes Vogelküken flattert ihr Herz, der Magen revoltiert, die Beine drohen nachzugeben. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich getrennt, mein Herz ist

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