Frau Schick räumt auf
mitgenommen, um Kosten zu sparen. Die Reise ist teuer genug und ihr Schminkarsenal zwar überschaubar, aber immerhin exklusiv. Ricarda überhäuft sie verlässlich mit Warenproben, wenn ihre Agentur Kosmetikkampagnen entwirft.
Ach! Der Lippenstift reißt ihr aus, und sie zieht einen Strich bis auf die linke Wange, weil sie an den Schlamassel von gestern denkt.
» Er sitzt samt Schuhkarton auf deinem Sofa.«
Auch nur einen Moment in Erwägung zu ziehen, dass Javier in Düsseldorf sein könnte, war Unsinn. In ihrem Wohnzimmer saß nicht er, sondern Ferdinand, der verlässliche Ferdinand Fellmann.
Nelly lässt sich auf die geschlossene Toilette plumpsen, weil ihr Magen einen Hüpfer macht. Diesmal nicht wegen Javier. Ihr treuer Nachbar hatte das Schuhpaket abgefangen, während sie noch im Finanzamt war. Ferdinand macht sich gern nützlich. Das ist seine hervorstechende Eigenschaft. Nelly runzelt die Stirn. Nein, das klingt zu sehr nach Nachttischlampe. Ferdinand ist mehr: ein guter Freund, ihr bester, aber eben ein typischer Hausfreund. Er wechselt Sicherungen und löst ihre Druckerprobleme, während sie Bratkartoffeln macht, und dann unterhält man sich bei Mozart und Kakao über das Leben. Nicht über weltbewegende Themen, schon gar nicht über Liebe oder Lyrik, sondern über Alltagskram: ihre klamme Auftragslage, Beckys Zahnklammer, Kochrezepte – die sind Fellmanns Hobby, was man ihm ansieht – oder über seine nervigen Kollegen aus der Rechnungsabteilung.
»Alltag ist das, womit sich achtundneunzig Prozent der Menschheit in neunundneunzig Prozent ihrer Zeit beschäftigen, Nelly«, mahnt Ricarda.
Auch das macht Ferdinand für Nelly nicht interessanter. Wie konnte Ricarda nur je darauf kommen, sie und Fellmann ergäben ein Traumpaar? Nicht in einer Million Jahren, selbst wenn der Fortbestand der Menschheit davon abhinge!
»Weiß er das?«, hat Ricarda scharf gefragt.
»Natürlich weiß er das! Ich bin es leid, dass du immer mein Gewissen spielst. Ferdinand ist für mich wie ein Bruder, und mit einem Bruder hat man keinen Sex. Das wäre abstoßend, unerträglich, widerlich! Das sollte selbst dir als Reklamepsychologin ja wohl klar sein.«
Sollte er es vorher nicht geahnt haben – nach dieser lautstarken Schlafzimmerszene, die er vom Wohnzimmer aus mitgehört hatte, war es auch Fellmann glasklar. Das Letzte, das sie gestern von ihm gehört haben, war ein Türenklappen. Kein Schlagen. Dazu ist Fellmann zu höflich und zu zurückhaltend, zu geduldig und zu verständnisvoll, zu großzügig und zu empfindsam.
Nelly schließt die Augen und stöhnt auf. Heiliger Strohsack, muss ihm das wehgetan haben! Ricarda hatte mal wieder recht. »Du musst seine Gefühle doch bemerkt haben!«
Ja, ja, ja! Das hat sie, aber sie hat eben nicht genauso empfunden wie ihr Nachbar und es auch nie behauptet.
»Hast du wenigstens mal darüber nachgedacht, was für ein Geschenk seine Zuneigung ist? Fellmann ist einer der wenigen Singlemänner in unserem Alter, der Benehmen und eine nachvollziehbare Beziehungs- und Berufsbiografie aufzuweisen hat.«
Ja. Auch das weiß Nelly. Und dennoch: »Sich zu verlieben hat doch nichts mit Nachdenken und erst gar nichts mit Vernunft zu tun«, hat sie leise geantwortet.
Ricarda und sie haben sich danach noch einige Dinge an den Kopf geworfen, die es wert wären, in ihr gemeinsames Sammelalbum der schrecklichsten Momente einzugehen, und dann ist Ricarda abgerauscht. Mitten in der Nacht hat sie noch eine E-Mail geschickt, die hochpoppte, während Nelly letzte Liebesgrüße mit Javier austauschte. Bis jetzt hat Nelly Ricardas Botschaft noch nicht gelesen. Besser sie tut es jetzt, damit ihr das Laborat nicht bei ihrer ersten Begegnung mit Javier im Kopf herumspukt und für weitere Verwüstungen sorgt. Es reicht, dass sie ihre beste Freundin und den treuen Fellmann verstört hat.
Nelly rappelt sich von der Toilette auf und macht sich auf den Weg zu ihrem Sitz. Ihr baskischer Nachbar will ihr seine sämtlichen Telefon- und Versicherungsnummern aufnötigen, damit er für die Beseitigung des Tomatenflecks auf ihrer Jacke aufkommen kann. Nelly lehnt entschieden ab und zieht ihr nagelneues Smartphone aus der Tasche. Sie tippt auf Mailfunktion, deaktiviert der Flugsicherheit wegen den Funkkontakt und scrollt die gespeicherten Nachrichten durch. Javier, Javier, Javier … Ah, da ist sie.
VON: Ricarda50p i us @frogmail.de
AN: Nelly48 @balou.de
BETREFF: Wunder gibt es immer wieder
Liebe Nelly,
es tut
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