Frau Schick räumt auf
eben einer akuten Unterzuckerung zu verdanken. Zur Freude ihres Sitznachbarn spießt Nelly rasch ein weiteres Fleischbällchen auf.
Eine Stewardess schießt mit rumpelndem Servierwagen an ihnen vorbei in die erste Klasse und bedenkt sie mit einem strafenden Blick. Die Familie entkorkt derweil heimlich eine Flasche Rotwein. Wie haben sie das alles an der Sicherheitskontrolle vorbeigeschmuggelt?
Neben dem Knoblauchduft liegt auf einmal ein Hauch Rebellion in der Luft. Das spontane Picknick ist eine Art umgekehrter Hungerstreik – nicht weil Basken traditionell zu Aufruhr neigen und diese fröhliche Familie wahrscheinlich schon gar nicht, sondern weil die Air Iberia in der Touristenklasse nicht einmal mehr Wasser umsonst serviert. Gratis werden lediglich schmutzabweisende Plastikkarten ausgehändigt, die für unappetitliche Snacks zu Himmelfahrtspreisen werben.
Der Mann neben Nelly benutzt die Karten als Platzdeckchen, poliert ein mitgebrachtes Weinglas und widmet sich genüsslich seinen Pinxtos.
Nelly lehnt den angebotenen Wein dankend ab, knabbert aber lächelnd Oliven. Statt Wein könnte sie jetzt gut ein Wasser gebrauchen, denn in Madrid hat sie die zwei Kilometer vom Ankunftsgate zum nächsten Abfluggate mit den anderen Passagieren im Laufschritt zurückgelegt. Selbst die professionell gerüsteten Jakobspilger – Nelly hat sie sofort an den Rucksäcken, Wanderschuhen und Sonnenhüten erkannt – kamen dabei ins Schwitzen.
Nellys Füße brennen von dem Spurt durch die Abflughalle. Ihre neuen Pumps gehen, wenn überhaupt, dann nur optisch als Tanzschuhe durch. Jetzt weiß sie, warum die Verkäuferin mit dem Nicknamen Fashionista Bad Berleburg die Dinger unbedingt loswerden wollte! Dazu hat das enge Kostüm ihr einen idiotischen Trippelschritt abverlangt – ein Albtraum! Ihr Humpelsprint muss reichlich komisch ausgesehen haben.
» Quiere un poquito?« Ihr baskischer Sitznachbar bietet ihr einen Nachschlag in Form von Brot und Pulpo in Tomatensauce aus einem miniaturgroßen Einmachglas an. Nelly hebt abwehrend die Hände. Ein Fehler, wie sie sofort merkt, denn sie trifft das Glas und Tomatensauce tropft auf hellen Cashmere.
» Disculpe!« , ruft der Baske entsetzt und in einwandfreiem Spanisch. Dann informiert er auf Baskisch die Großfamilie von der Katastrophe. Das kann Nelly zwar nicht verstehen, aber sehen. Eine energische alte Dame erhebt sich und kramt aus einer monströsen Krokotasche Tempos, Eau de Cologne und Veilchenpastillen hervor, um alles Nelly anzubieten. Fehlt nur noch Riechsalz. Was sie braucht, ist aber eindeutig Sodawasser.
» Gracias. Es nada« , beschwichtigt Nelly die aufgeregten Gemüter. Sie greift nach ihrem Reiserucksack und schlängelt sich an ihrem Sitznachbarn vorbei in den Gang.
Ungnädig zieht die Stewardess auf Nellys Bitte die Trennvorhänge zur ersten Klasse zur Seite und rückt einen halben Plastikbecher mit Mineralwasser heraus, um sich hernach wieder ausführlich ihren anderthalb Gästen der Businessclass zu widmen. Der ganze schläft; der halbe – kaum sieben Jahre alt – lümmelt sich in einer Müllhalde aus Popcorn und Kaugummipapier und zerballert, zerhackt und köpft Nintendo-Monster, die an Embryos mit Plüschohren erinnern. Sie verenden unter erbarmungswürdigen Quietschlauten. In den Ohren des moppeligen Minikillers stecken I-Pod-Stöpsel, über die er zeitgleich wummernden Ghetto-Hip-Hop hört. Für Nellys Geschmack ist Moppelchen ein Fall für die Sicherheitskontrolle. Sie hofft nur, dass Becky nicht gerade in einem anderen Flieger ähnlich dumpfschädelig abhängt.
Die Tomatenflecken gehen trotz aller Bemühungen nicht raus und sitzen exakt unter Nellys linker Brust. So als habe der Nintendo-Killer sie mitten ins Herz getroffen. Das Mineralwasser hat nicht geholfen, die Flecken verschwinden zu lassen, sondern sorgt im Gegenteil für ihre gleichmäßige Ausdehnung und den Eindruck, sie verblute. Nelly mustert sich seufzend im Spiegel der Toilettenkabine. Was hatte sie gehofft, die Zeiten unrettbar befleckter Kleidung seien mit Beckys Kleinkindjahren abgeschlossen! Hoffentlich verfügt das Hotel in Pamplona über einen Reinigungsservice und Chemikalien, die in Deutschland längst unter die Giftverordnung fallen. Sonst ist das Kostüm ruiniert.
Wenigstens den Lippenstift kann sie ein wenig restaurieren. Sie kramt einen winzigen Schminkkoffer aus dem Rucksack. Hello Kitty winkt ihr zu. Nelly lächelt. Das Köfferchen gehörte früher Becky. Sie hat es
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