Frau Schick räumt auf
Rosenquarzen, Bergkristallen. In der Wäscheschublade hat Frau Schick beim Ausräumen ihrer Wohnung welche gefunden und sogar unter dem Kopfkissen. Theklas Metastasen haben die Steine allerdings wenig beeindruckt.
»Das beruhigt mich, weißt du, es beruhigt mich ungemein zu wissen, welche Schätze und Wunder sich in der Erde verbergen, wie viel Schönheit uns umgibt, ohne dass wir es wahrhaben«, hat Thekla immer gesagt. Sie hat geahnt, dass sie bald unter die Erde muss und sich ihre letzte Ruhestätte wohl lieber als bunte Kristallhöhle vorgestellt, statt an nasses Dunkel und Wurmfraß zu denken.
Na, wer stirbt hat ein Recht, sich an jedes Fünkchen Hoffnung zu klammern, sogar wenn es sich um Kindermärchen um alberne Knicker handelt.
Thekla fehlt.
An allen Ecken und Enden. Trotz allem. Und Märchen, Märchen hat sie früher doch auch gemocht. Und wie! Frau Schick beschleunigt ihre Schritte. Eins zwei, eins zwei. Das belebt ungemein. Wenn sie so weitermacht, holt sie am Ende noch die anderen irgendwo ein. Der Knicker drückt sich bei jedem Schritt in ihren Oberschenkel.
» Va-de-me-cum, va-de-me-cum« , murmelt Thekla im Takt der Schritte.
Geh mit mir? Könnte der so passen!
»Klotz! Klotz! Klotz am Bein, Klavier vorm Bauch. Wie lang ist die Chaussee?«, tönt Frau Schick gegen Theklas Va-de-me-cum an. »Rechts ’ne Pappel, links ’ne Pappel, in der Mitt’ ein Pferdeappel, und am Wege, ach, fließt ein Bach.«
Passt prima, und jetzt die zweite Strophe: »Klotz! Klotz! … Links sind Buchen, rechts sind Buchen, in der Mitte muss man suchen.« Das hätte sie vorhin mal in dieses Kritzelbuch am Kreuz eintragen sollen! Der liebe Gott – so es ihn gibt – hat sicher nichts gegen fröhliche Menschen! Im Gegenteil. Frau Schick dekliniert das Klotzlied mit allen Bäumen durch, auf die sich ein Reim machen lässt, von den Linden, die sich finden, bis zu den Eichen, die nicht weichen. Als ihr die Bäume ausgehen, beginnt sie ihre Schritte mitzuzählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf … Bei hundertneun kommt sie ins Stocken, weil sich Theklas Va-de-me-cum wieder vordrängelt. Das ist ja schlimmer als ein Schluckauf!
»Hundertneun!«, schimpft Frau Schick.
Bei zweihundertzwei überholt sie einen Mann mit Rucksack und Sonnenhut.
»Zweihundertdrei.«
» Buen camino« , grüßt der Pilger mit irritiertem Blick.
Dafür hat sie jetzt keinen Kopf. Dreihundertvier. Hach, jetzt hat sie sich aber bestimmt verzählt! Sie erhöht den Takt ihrer Schritte.
Bei zweitausendelf pausiert sie kurzatmig neben einer Schafweide und wagt einen Blick zurück. Den Pilger hat sie abgehängt. Dafür ist sie richtig aus der Puste.
Thekla nicht. »Geh mit mir und in Frieden.«
Frau Schick schaut in den Himmel. Ist sie noch bei Trost? Von Thekla kann der Stein wohl kaum stammen. Und von Gott ja wohl erst recht nicht. Die dämliche grüne Kugel hat ihr jemand anders vor die Füße gelegt. Dem allwissenden Herberger wäre es zuzutrauen. Oder handelt es sich um eine Werbemaßnahme der Reisegesellschaft? Wirft am Ende der falsche Jesus mit den Klunkern um sich? In der Bibel kommen jede Menge Edelsteine vor. Die Schemutat kannte sich mit sowas aus. Jaspis hat sie sehr gemocht und den Stein des treuen Glaubens genannt. Hach, piepegal, ein Wunder ist das jedenfalls nicht.
Einatmen, ausatmen, und weiter geht es. Frau Schick passiert einige Wiesen. Auf einer grasen prachtvolle braune Pferde mit hübschen Blessen und schlanken Fesseln. Gelbe Blumen nicken am Wegrand. Bienen sirren durch das Gras und machen die Stille hörbar. Herrjemine, ist das harmlos und lieblich und niedlich und so ganz und gar nicht das, was sie jetzt will und braucht! Ihr Leben war nie ein Spaziergang und soll es auch auf den letzten Metern nicht sein.
Der Weg macht erneut eine Biegung und führt in ein kleines Waldstück mit dichtem Gestrüpp und viel Unterholz. Die Bäume vereinen hoch über ihrem Kopf die Kronen und dämpfen das Himmelsblau zu einem erträglichen Schattenlicht ab. Das bekommt ihren sonnenempfindlich gewordenen Augen viel besser, und überhaupt fühlt sich das Halbdunkel des Waldes richtig an. Sehr begrüßenswert, die Bäume.
Im Wald sind keine Räuber, sondern die besten Verstecke. Das hat sie auf der Flucht gelernt. Hinter Elbing, etwa sechzig Kilometer vor Danzig, als mit den Zügen Schluss war und nichts mehr weiterging, haben sie sich damals im Wald versteckt und Hütten aus Tannenzweigen gebaut, während die russische Offensive über die
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