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Frau Schick räumt auf

Frau Schick räumt auf

Titel: Frau Schick räumt auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Jacobi
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Straßen und das letzte Restchen Leben hinwegrollte und Panzer von allen Seiten in die Trecks feuerten. Gleichzeitig legten die letzten deutschen Jagdbomber von oben nach. Beide Seiten nahmen keine Rücksicht auf Verluste. Aber es war ohnehin egal, wer Freund oder Feind hieß. Tod und Grauen hatten sie beide im Gepäck.
    Katong, Katong, Tattatatatata!, peitscht das Sperrfeuer in ihren Ohren. Hinwerfen, aufstehen, weiterlaufen, in den Graben springen, sobald gellend einer schreit: »Alles runter, runter, runter!«
    Thekla feste gegen ihre Brust gepresst, ist Röschen gelaufen und gesprungen, hat Thekla abgelegt und sich, so sanft es eben ging, über sie geworfen. Da war frischer flaumiger Schnee willkommen wie ein Pöhlwitzer Federbett. Im Wald war es dann anders. Der Wald war Zuflucht, drei Wochen lang. Atempause. Überleben. Egal wie. Feuerholz gab es genug, erbärmlich gefroren haben sie trotzdem und ständig Hunger gehabt. Kartoffelmieten haben sie gesucht und gefunden und geplündert. Die zwei stillenden Mütter bekamen immer zuerst, damit der Milchfluss nicht versiegte. Ihre Thekla haben sie auch angelegt, aber in den Schlaf gewiegt hat Röschen sie. Dabei hat sie ganz leise gesungen wie früher die Schemutat auf Pöhlwitz. Nicht Pommerland ist abgebrannt , sondern Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem großen Himmelszelt . Die Sterne waren wichtig, sie haben ihnen später den Weg in den Westen gewiesen.
    Einmal haben sie im Wald ein entlaufenes Schwein eingefangen. Die Frauen haben es geschlachtet, zerteilt, in Batzen gesäbelt und gebraten und gekocht. War das ein Fest! Fast wie in Grimms Märchen – den schrecklich schönen. An dem Abend hat zum ersten Mal eine der Mütter gefragt, wie Röschens Baby denn hieße. Vorher wollte sich wohl keiner den Namen merken, damit es später nicht noch jemanden zu beweinen gäbe.
    »Thekla«, hat Röschen gesagt. Das war für sie keine Frage. Sie kannte sie ja schon Ewigkeiten vorher. Als Röschen vier, fünf Jahre alt war, war Thekla zum ersten Mal bei ihr aufgetaucht – nicht als Baby, sondern als fix und fertiges Kind, als beste Spielkameradin von allen. Sie hatte ja nicht besonders viele. Thekla hat immer mit am Tisch gesessen und ist überall mit hingekommen, auch in das dunkle Brombeergestrüpp beim Stall, wo ein Troll Quartier genommen hatte.
    Mit Thekla konnte sie sich über alles unterhalten, etwa über die Farben der Buchstaben im Alphabet. Röschens A war sonnengelb, Theklas blassrosa wie Himbeersahne. Gestritten haben sie sich höchstens darüber, wo die Kinder herkommen – aus dem Bauchnabel oder vom Klapperstorch. Natürlich aus dem Bauchnabel! Thekla aber hat darauf bestanden, dass sie direkt aus dem Himmel gefallen ist. Das war in Röschens Augen noch abwegiger als die Zuckerstückchen, die sie abends aufs Fenster gelegt hatte, damit sie endlich eine Schwester bekommt. Thekla war weit besser als eine Schwester. Thekla war Thekla.
    Klein-Röschen hat von der Schemutat beim Frühstück immer einen Teller für Thekla verlangt, obwohl alle außer der Schemutat gesagt haben: »Kind, da ist doch niemand«, und gelacht oder sorgenvoll mit Haupt und Zeigefinger gewackelt haben und ihr schließlich eine Puppe unter den Christbaum legten. Röschen wusste es besser. Und die Schemutat auch. »Röschen is’ goldrichtig«, hat sie immer gesagt. »Sie bringt gern die Welt in Ordnung.«
    Natürlich verschwand Thekla später wieder, aber im Wald da war sie wieder da, diesmal als Baby.
    Ein polnischer Offizier hatte ihnen die versteckte Waldlichtung gezeigt, nachdem in einer Rotkreuzbaracke kurz hinter Elbing ein russischer Infantrietrupp über sie hergefallen war. »Diese Männer nix Kultura«, befand der polnische Offizier. Er nahm die zwanzig Frauen und Kinder nach zwei Nächten Inferno einfach mit und rettete sie damit. So was gab es auch.
    Danach war sie kein Kind mehr, aber immer noch elf Jahre. Die anderen Frauen haben ihr und allen anderen Mädchen die Haare abgeschnitten, und sie sind fortan als Jungen mitmarschiert. Das war sicherer.
    Ja, der Wald war die Rettung, trotz Hunger und Frost. Da hat der Krieg die Luft angehalten. Der Wald war das Beste – und Thekla.
    Frau Schick wird die Kehle ganz eng. Ihre Hände streicheln Glaspapier. Verdammt, was macht sie denn jetzt? Sie steht da und streichelt einen Baum! Eine Buche. Mit einem Mal weiß sie genau, wer ihr den Stein vor die Zimmertür gelegt hat. Was sagt man dazu?
    Nichts. Man geht einfach weiter.
    Es

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