Frau Schick räumt auf
Jakobsweg: Und du … Du gehst ins Gefängnis!«
Für Frau Schick ist die Sache damit erledigt, für Nellys spanischen Verehrer allerdings nicht. Ein heiseres, ärgerlich anziehendes und triumphales Lachen dringt durch die Leitung. »II camino? Fantastico! Bisse bald, mi amor!« Javier drückt das Telefonat weg, und Frau Schicks Frage »Was soll das heißen?« verhallt ungehört. Bis bald? Wo? In Deppendorf?
»Das werde ich verhindern, Freundchen!«, schimpft Frau Schick, die sich darüber ärgert, dass sie mit diesem Blubbermaul überhaupt so viel geredet hat. So einer hat ihr gerade noch gefehlt! Den lässt sie auf hundert Kilometer nicht an Nelly heran, und von diesem Anruf wird sie ihr auch kein Sterbenswörtchen verraten. Sie kann schweigen. Und wie!
Und nun wird sie endlich die Post vom Grüßaugust erledigen und Theklas unsägliches Schreiben noch einmal lesen, das sie vorhin so erschöpft hat. Herrgottzack! Sie hat es über diesem dummen Anruf ganz vergessen.
Frau Schick richtet sich doppelt grimmig im Bett auf, steht auf und staunt, wie flink sie auf die Beine und zum Schreibtisch kommt.
19.
An den Hausecken drängen sich Touristen um Stadtführer aller Nationen, die in babylonischem Sprachgewirr von der alljährlichen Stierhatz durch Pamplona erzählen. Die meisten Zuhörer gieren danach, von den Toten und Verletzten zu hören, die beim traditionsreichen Wettlauf zwischen Bullen und Menschen auf dem Weg zur Kampfarena von donnernden Hufen zermalmt werden.
Endlich eine willkommene Ablenkung.
Nelly gesellt sich zu einer deutschen Gruppe und hört mit, obwohl sie derartige Bildungsschnorrerei gewöhnlich verabscheut. Stadtführer zu sein ist auch ohne nicht zahlende Zuhörer ein hartes Brot. Sie hat das mal eine Weile gemacht und weiß das aus Erfahrung. Am schlimmsten sind die Besserwisser unter den Lauschern, die alles auf Fehler überprüfen.
Unwillkürlich streift ihr Blick eine hagere Frau, die ihren Mann am Ärmel festhält und mit tastenden Blicken das Steinpflaster nach eingetrockneten Blutspuren abzusuchen scheint. »Diese Stierhatz muss doch endlich verboten werden. Das ist ja barbarisch!«, erklärt sie resolut. »Ernst-Theodor. Dein Hauptfach ist doch Ethik. Was sagst du dazu?«
Nichts.
Dafür ergreift eine hübsche dralle Frau mit blauen Augen das Wort: »Mir tun die Stiere entsetzlich leid. Tiere so zu missbrauchen …«
»Ich dachte an die Menschen«, erklärt ihre hagere Kontrahentin von oben herab.
Die Frau mit den blauen Augen seufzt. »Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben.«
»Das ist von Tolstoi«, sagt der verheiratete Ernst-Theodor in Richtung Stadtführer.
Seine Gattin zieht ihn wie einen Erstklässler am Ärmel. »Das ist doch hanebüchener Unsinn«, korrigiert sie mit vernichtendem Blick auf ihre Vorrednerin. »Hitler war bekanntlich auch Vegetarier.«
Die Frau mit den blauen Augen zieht sich beschämt zurück. Nelly ist, als schaue sie in einen Spiegel und sehe ihr eigenes künftiges Ich. Fast möchte sie die Dame trösten.
»Aber Hildegard! So naiv hat der Tolstoi das doch nicht gemeint!«, protestiert stattdessen Ernst-Theodor. Sein Tonfall klingt wie »Hinsetzen, sechs!« Er doziert sich in Rage: »Es geht um den grundsätzlichen Respekt vor jeglicher Kreatur als moralische Leitkategorie. Tolstoi war ein großartiger Religionsphilosoph.« Offensichtlich hat Ernst-Theodor gerade den Torero der Tierrechte und eine lang verhehlte Vorliebe für besser genährte Frauen als seine hagere Hildegard entdeckt. Oder will er der nur eins auswischen?
Der dezent genervte Stadtführer übergeht die deutsche Gewissensprüfung und erläutert, dass Pamplonas Stiere nicht von schlagenden Menschen in Raserei versetzt werden, sondern von einer vorauslaufenden Leitkuh. »Sonst würde sich kein Bulle auf den Weg machen. Viel zu träge.« Er schenkt Ernst-Theodor ein bedeutungsvolles Augenzwinkern.
Dessen Hildegard schürzt die Lippen. Ernst-Theodor dürfte ein heiterer Abend bevorstehen.
Der Stadtführer schließt mit einer schwärmerischen Schilderung der Fiesta im Namen des heiligen Fermin: »Hemingway hat die vibrierende Atmosphäre des Festes weltberühmt gemacht und geschätzt. Ein Genie irrt selten.«
Genies und Hemingway sind nicht nach Nellys Geschmack. Sie wendet sich ab. Sie hätte nichts dagegen, jetzt von einem rasenden Bullen überrannt zu werden, aber es ist schon September und die Toreros und Stiere haben seit Juli Ferien. Stattdessen
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