Frau Schick räumt auf
nimmt sie Huckepack und schlittert mit ihr über die Fliesen. Nellys bereits lädierte Stirn setzt der ungelenken Rutschpartie ein Ende und prallt gegen den Mahagonitresen. Ganz großes Kino! Haltungsnote: minus sieben, künstlerischer Ausdruck: nicht vorhanden, kommentiert Nelly leicht benommen. Wozu braucht sie Brandy? Sie muss nur irgendeinem selbstbegeisterten Holzkopf in die Augen gucken, schon ist sie im Vollrausch.
Nelly stöhnt unwillkürlich auf und möchte bäuchlings auf dem Plüschhocker liegen bleiben, um direkt hier zu sterben.
Oh, Schluss mit diesem Unsinn! Sie hebt den Kopf und jagt einen Pantherblick durch den schummrigen Raum, der ihr wie eine Mischung aus Jugendstil-Puff und Westernsaloon erscheint. Vom Barkeeper fehlt jede Spur. Ihre Augen durchrastern den Raum, um die Besitzer der Pilgerstäbe und eventuell schadenfrohe Zeugen ihres Sturzes mit einem Präventivschlag abzustrafen.
Ihr Blick bleibt am einzigen Gast hängen, der es sich in einem Separee mit Vino tinto und einem Buch gemütlich gemacht hat. Offensichtlich ein Tourist. Um sechs Uhr abends ist es mindestens drei Stunden zu früh für spanische Nachtschwärmer. Neben dem Glas des Mannes liegen ein Pfeifen-Futteral und ein penibel aufgereihtes Sammelsurium aus Stopfwerkzeug. Der Mann hebt den Kopf.
Oh nein, nicht der, bitte, nicht der!
20.
Frau Schick macht sich stadtfein. Ein Sommerkleid aus dunkelblauer Seide, eine leichte Jacke und ein Hut aus Stroh. Fertig. Sie wirft einen zornigen Blick zu dem Schreibtisch mit den Löwenpranken, an dem anno Piefedeckel wahrscheinlich einmal ein navarrischer Provinzbaron Diktator gespielt hat.
Jetzt liegen die Faxe und Geschäftsberichte von ihrem Kölner Grüßaugust darauf. Sie hat alle beantwortet. Nur den einen Brief nicht.
Wie sollte das auch gehen? Auf Post von Toten kann man nichts erwidern. Allein die Adressanschrift bereitet ja Schwierigkeiten. Und Theklas Zeilen erst recht. Wegwerfen sollte sie diesen Schmarrn, diesen Brandbrief, diesen … Es war doch gerade alles geklärt zwischen ihnen. Zufriedenstellend geklärt. Sie geht zum Schreibtisch zurück und streckt die Hand nach dem eng beschriebenen Blatt aus, will es zerknüllen, kann es nicht und liest alles noch einmal.
Liebes Röschen,
mir hat ein Leben lang der Mut gefehlt, Dir zu sagen, was Du inzwischen wissen wirst, denn ich bin tot, wenn Du diese Zeilen liest.
Ja, ich habe Paul einmal geliebt, besser: Ich meinte ihn zu lieben und weiß seit Langem, dass das eine Täuschung war.
Ich hatte Mitleid mit ihm und war wütend auf Dich, weil Du ihm kalt und unerreichbar warst und seine Göttin.
Für diesen Irrtum habe ich einen hohen Preis gezahlt. Mein Versuch, danach aus Deinem und Pauls Leben und meiner Verantwortung zu verschwinden, ist missglückt. Nun zeigt mir der Tod den Weg.
Röschen, ich habe unsere Freundschaft, die so viel mehr war als das, bitter verraten und wollte trotzdem ohne sie nicht leben. Als mein Sohn, Pauls Sohn, erwachsen war und ich meine Lebensmitte überschritten hatte, sehnte ich mich zurück nach Heimat und Ursprung. Beides war für mich unsere Freundschaft, und beidem hätte ich mit einem Geständnis endgültig den Boden entzogen.
Du wirst fragen, warum ich nicht über das Grab hinaus über mich und Paul schweige.
Ich schreibe, weil Du die Wahrheit verdienst.
Und mein Sohn Johannes auch.
Ich habe ihm nie gesagt, wer sein Vater ist. Nun bittet er mich darum. Er ist vor einigen Monaten zum ersten Mal selbst Vater geworden und will seinem Kind eine Vergangenheit, eine Geschichte und tiefere Wurzeln geben, als er je kannte.
Ich weiß, wie es ist, beides nicht zu haben und zu kennen. Viele Menschen glauben, ihre Vergangenheit oder Familiengeschichte sei eine Last, und tragen sie wie einen Buckel. Sie ahnen nicht, wie viel schwerer es ist, nicht zu wissen, woher man kommt und wer einem vorausgegangen ist. Man bleibt Stückwerk, und im Leben klafft immer eine Lücke. Ich wünsche mir mehr, als ich sagen kann, dass Johannes’ werdende Familie nicht mit meinen Lügen und so großen Lücken leben muss.
Röschen, ich bitte Dich, Johannes und seinem Kind, das Pauls Enkel sein wird, etwas zu schenken, das mir bitter gefehlt hat: eine Vergangenheit und eine Familiengeschichte, die mehr Gesichter hat als nur das meine.
Vor allem auch Deines.
Es ist und bleibt für mich das erste und einzige, das ich in meiner Kindheit kannte und lieben durfte. Und das ich – auch das ist wahr – vorübergehend gehasst
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