Frauen lügen
warten. Jetzt sind die Parkplätze fast leer, und auch auf dem gepflasterten Weg, der zu dem Holzsteg direkt am Strand führt, begegnet Susanne niemandem. Kein Wunder, denn auf der Dünenkuppe schlägt ihr der Wind vom Meer mit unerwarteter Heftigkeit ins Gesicht. Gut, dass sie die Haare zurückgebunden hat. Entschlossen versenkt Susanne beide Hände in den Taschen ihrer Jacke und betritt den Sand. Er ist feucht und fest unter ihren Seglerschuhen, der Regen und die Winde der vergangenen Nacht haben feine Rillen in ihn gegraben. An der Meereskante legen die Wellen der Flut immer wieder neue Muster vor Susannes Füße. Sie senkt den Blick und marschiert nach Süden, den steil aufragenden Felsen des Roten Kliffs entgegen. Ihre Hand in der linken Tasche umklammert das iPhone. Susanne weiß, sie sollte Jonas anrufen und sich mit ihm abstimmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die neugierige Polizistin auch ihn vernehmen wird oder jemanden in Hamburg beauftragt, das zu tun. Jonas muss wissen, was sie gesagt und was sie verschwiegen hat. Diskretion war schon immer die Geschäftsgrundlage ihrer Ehe.
Doch als Susanne das Handy aus der Tasche zieht, sieht sie schnell, dass der Empfang nicht für ein vernünftiges Telefonat ausreichen wird. Dann eben nicht. Sie senkt den Kopf und beschleunigt ihre Schritte. Der scharfe Wind treibt die Gedanken aus ihrem Hirn und macht es frei. Das Brüllen des Meeres schafft einen Geräuschkokon, in dem sie sich geschützt und aufgehoben fühlt. Sie hatte ganz vergessen, dass es das gibt. Sie war ihrer Insel untreu geworden und kann es jetzt überhaupt nicht mehr verstehen.
Als die Sonne plötzlich durch die Wolken bricht und den Strand zum Strahlen bringt, weiß Susanne genau, dass sich etwas ändern wird. Warum sollte sie in Zukunft auf die Möglichkeit verzichten, hier Kraft zu tanken, nur weil diese Insel in einem früheren Leben einmal eine so wichtige Rolle für sie gespielt hat? Die unbeschwerte Zeit mit Fred Hübner, diesem chaotischen Playboy, ist das Schönste an ihrer Jugend gewesen, vielleicht gerade, weil ihr immer klar war, dass die Liaison keinen Bestand haben würde. Susanne hatte jahrelang nicht mehr an Fred gedacht, als sie erfuhr, dass er mit seinem Buch den großen Coup gelandet hat. In einer Talkshow, die sie sich neugierig ansah, wirkte er erstaunlich frisch und nur zu seinem Vorteil gealtert. Es würde sie interessieren, wie es ihm in den letzten beiden Jahrzehnten ergangen ist. Doch als sie ihn gestern Abend im
Rauchfang
unter den Gästen gesehen hat, war es aus verschiedenen Gründen nicht der richtige Zeitpunkt, um den ehemaligen Geliebten anzusprechen – auch wenn es sie amüsiert hat, wie nachdrücklich er sie anstarrte.
In ihren Gedanken gefangen wird Susanne unachtsam, und prompt überspült eine Welle ihre Schuhe. Das Wasser ist kalt und ungemütlich. Sie bleibt stehen und zieht die Schuhe aus. Sie weiß, sie sollte zurückkehren, bevor sie sich erkältet, aber andererseits entwickelt der menschenleere Strand in der Morgensonne eine starke Faszination. Vorn am Übergang zum Campingplatz badet sogar ein einzelner Irrer in den Fluten. Bis dorthin wird sie laufen und nicht weiter. Ihr Telefonat mit Jonas wird solange warten müssen.
Als Susanne sich der badenden Gestalt nähert, sieht sie, dass es ein Mann ist, der nackt gegen die Wellen anspringt. Sein Körper wirkt kräftig und trainiert genug, um der Wucht des Meeres standzuhalten. Susanne hat den Badenden fast erreicht, als er zurück an den Strand läuft.
Sie traut ihren Augen nicht, denn Gesicht und Körper kommen ihr sehr bekannt vor. Nach wenigen Schritten gibt es keinen Zweifel mehr. Vor ihr steht Fred Hübner, ihr Liebhaber aus längst vergangenen Tagen. Belustigt mustert sie ihn und fasst dann ihren Eindruck in Worte.
»Guten Morgen, Fred. Du hast dich erstaunlich wenig verändert.«
Hübner starrt sie an wie einen Geist, und wenn Susanne nicht alles täuscht, wird er sogar rot. Eine Antwort bekommt sie nicht.
Susanne bückt sich und reicht Fred Hübner sein Handtuch.
»Wir können unsere Konversation gern verschieben, bis du dich abgetrocknet und angezogen hast. Oder willst du prinzipiell nicht mehr mit mir reden?«
»Doch, natürlich. Warum nicht? Ich war nur überrascht, dich hier zu sehen.«
»Du hast mich doch gestern Abend schon gesehen – und das stundenlang, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Ich konnte es einfach nicht glauben.«
Er rubbelt sich heftig über Arme und Beine, als
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