Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Sätze in ihr Tagebuch schreibt, wird diese Selbstunsicherheit noch von dem Schuldgefühl verstärkt, zu sehr den eigenen Interessen nachzugeben und sich nicht genügend um den todkranken Vater zu kümmern. Ein Jahr später ist Leslie Stephen tot, und Virginia erleidet zum dritten Mal in ihrem Leben einen Nervenzusammenbruch.
Als sie wieder einigermaßen stabilisiert ist, beginnt für sie und, wie sie später mutmaßt, für die Menschen insgesamt eine neue Epoche. Vorderhand hört das Neue auf den Namen Bloomsbury, jenen Stadtteil Londons rund um das British Museum, in dem die Stephen-Kinder nach dem Tod des Vaters ein Haus beziehen. Sie wollen nicht nur näher am Stadtzentrum wohnen, sie wollen ein neues Leben beginnen. Die gedämpfte Stille und das rote Halbdunkel des Familiensitzes, wo man bis zum Ersticken umhüllt war mit Vergangenheit, lassen sie hinter sich. Roter Plüsch und schwarzer Lack weichen grünem und weißem Chintz; die Wände sind nicht länger mit schweren Tapeten bezogen, sondern in Weiß gehalten. In Bloomsbury kommen Thoby, Vanessa, Virginia und Adrian Stephen in der Gegenwart an und stellen fest, dass die Zukunft offen ist. »Wir waren voll der Experimente und Reformen«, schreibt Virginia im Nachhinein. »Alles würde neu sein; alles würde anders sein. Alles würde ausprobiert werden.«
Von Kensington aus gesehen war Bloomsbury kein gutes Viertel: mit für damalige Verhältnisse geradezu tosendem Autoverkehr und seltsamen Gestalten, die an den Fenstern vorbeischlichen. Die Gegend war in den letzten Jahrzehnten etwas heruntergekommen; die Nähe zur Fleet Street, in der die Zeitungsverlage saßen, und zum British Museum mit seinem großen Lesesaal, aber auch die billigen Mieten hatten Künstler, Schriftsteller und Studenten angelockt. »Als unsere alten Familienfreunde und Verwandten die schwierige Reise nach Bloomsbury unternahmen, warfen sie die Köpfe hoch und schnüffelten in der Luft herum«, schreibt Virginia im Rückblick. »Da war etwas in der Atmosphäre, etwas, das nicht mit den alten Familientraditionen in Einklang zu bringen war.«
Und nicht nur mit den Familientraditionen, auch mit Tradition generell. Virginia beschreibt die neue Atmosphäre als »bis ins Extrem abstrakt« und empfindet das zumindest anfangs als positiv. In das neue Haus fielen bald die »Apostel« ein – so nannte sich eine auserwählte Gruppe von Studienfreunden Thobys in Cambridge, allesamt gelehrige Schüler des charismatischen Philosophen George Edward Moore. Von ihm übernahmen sie insbesondere den Grundsatz, dass »persönliche Zuneigungen und ästhetische Freuden alle größten, und zwar bei weitem größten Güter mit sich bringen, die wir uns vorstellen können«. Thoby selbst war kein Apostel, aber als sie einen Treffpunkt in London suchten, gewissermaßen einen Außenposten der Cambridge Society, bot sich die neue Bleibe der Stephen-Kinder an. So kam es zu den berühmten Donnerstagabenden, zu denen man sich nicht umzog, wo keine Konversation betrieben wurde, wo die »ganze gewaltige Last der äußeren Erscheinung und des Benehmens« von einem abfallen konnte, weil sie einfach nichts mehr galt. Worauf es stattdessen ankam, waren Sachargumente, intellektuelle Brillanz, geistreiche Bemerkungen, eine Virginia bislang unbekannte Verbindung von Leidenschaft, Geistesgegenwart und Authentizität.
Berauschend war für sie und ihre Schwester, von diesen philosophisch gebildeten Intellektuellen ernst genommen und auf Augenhöhe betrachtet zu werden, ungeachtet des Umstands, dass sie als Frauen nicht studiert hatten – einfach deshalb, weil sie sich ihres eigenen Verstandes bedienten und belesen waren. Das meint Virginia, wenn sie im Rückblick sagt, dass Liebe und Heirat hier keine Rolle spielten (worin sie übrigens irrte, nur stand das nicht derart im Vordergrund wie in den traditionellen Kreisen, aus denen sie kam). Thobys Freunde waren jedenfalls andere Männer als jene, die sie bislang gekannt hatte. Virginia beschreibt sie als »schäbig«, »bar jeder körperlichen Attraktivität« und zielt damit wieder auf etwas in ihren Augen Positives, nämlich ihre Intellektualität: Das waren nicht jene auf gutes Benehmen, Aussehen und beruflichen Erfolg dressierten Lackaffen, unter denen sie sich bislang »junge Männer« vorgestellt hatte. Henry James hingegen, der den einen oder anderen dieser intellektuellen Bohemiens kannte, schüttelte den Kopf (obwohl er ihnen in seinen Ansichten durchaus nahestand):
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