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Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Titel: Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bollmann
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»Beklagenswert! Beklagenswert! Wie konnten Vanessa und Virginia sich nur solche Freunde zulegen? Wie konnten Leslies Töchter sich nur mit solchen jungen Männern einlassen?«
    Auf die mittlerweile zweiundzwanzigjährige Virginia wirkt sich die neue Atmosphäre jedenfalls beflügelnd aus. Sie beginnt wieder zu schreiben. Ende 1904 erscheint ihre erste Veröffentlichung, eine anonyme Buchbesprechung in einer Frauenbeilage. Im Jahr darauf schreibt sie schon für das Times Literary Supplement . Am Morley College, einer Abendschule für Berufstätige, unternimmt sie erste zaghafte Versuche in freier Rede und unterrichtet Geschichte und Aufsatz. Auch die Arbeit an ihrem ersten Roman Melymbrosia , aus dem sich später Die Fahrt hinaus entwickeln sollte, macht Fortschritte.
    Doch irgendwann stellt sie fest, dass etwas nicht stimmt mit der Atmosphäre von Bloomsbury. Trotz anregender Diskussionen, hochtrabender Themen und Freundschaften fühlt sich Virginia seit einiger Zeit »unglaublich gelangweilt«. Sie braucht etwas, bis sie darauf kommt, was es ist. Doch dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Die meisten der Bloomsbury-Männer sind schwul, »Sodomiten«, wie man damals Homosexuelle nannte. Zwar hat deren Gesellschaft, so reflektiert Virginia, viele Vorteile, wenn man eine Frau ist: »Sie ist einfach, sie ist ehrlich, man fühlt sich in mancher Hinsicht in Ruhe gelassen« – kurz, man kann sich unangefochten den Dingen des Geistes widmen. Doch es fehlt etwas. Virginia nennt es »Glänzen« – mit Schwulen könne man nicht glänzen. Sofort fügt sie hinzu, sie meine nicht »kopulieren« – auch so ein Wort, das aus der Mode geraten ist –, also Bettgeschichten. Doch darauf ist sie gar nicht aus. Was also fehlt?
    Auch ihre schwulen Freunde entwickeln wohl ein Gespür dafür, dass »bis ins Extrem abstrakte« Diskussionen über Philosophie, Kunst und Religion auf Dauer nicht ausreichen, wenn man sich vorgenommen hat, alles anders zu machen und alles auszuprobieren, keine Grenzen und keine Tabus zu akzeptieren. Jedenfalls geht eines Abends die Tür auf, und »die lange, finstere Gestalt von Mr Lytton Strachey«, unter den schwulen Aposteln der größte Ausbund von Geist und der brillanteste dazu, steht auf der Schwelle. Er deutet mit dem Finger auf einen Fleck auf Vanessas weißem Kleid.
    »Samen?«, fragt er.
    »Kann man das wirklich sagen?«, denkt Virginia. Die Anwesenden brechen in Gelächter aus. Der Bann ist gebrochen. Virginia schreibt:
    Mit diesem einen Wort fielen alle Schranken der Zurückhaltung und der Reserviertheit. Ein Schwall der geheiligten Flüssigkeit schien über uns hinwegzuschwappen. Sex ergoss sich über unsere Gespräche. Das Wort Arschficker kam leicht über unsere Lippen. Wir diskutierten mit derselben Aufgeregtheit und Offenheit über Kopulation, mit der wir über das Wesen des Guten diskutiert hatten. Wo alle intellektuellen Fragen so frei diskutiert worden waren, war Sex völlig ignoriert worden. Jetzt ergoss sich eine Flut von Licht auch über diesen Bereich. Jetzt redeten wir über nichts anderes. Wir lauschten mit hingerissenem Interesse den Liebesaffären von Arschfickern.
    Virginia Woolf nennt dieses Ereignis eine völlige Veränderung der Sicht auf das Leben, ja, einen »großen zivilisatorischen Fortschritt«. Wir mögen das heute belächeln, aber das kann damit zu tun haben, dass wir uns keinen rechten Begriff mehr davon machen, welchen Einschränkungen das Sprechen über Sex seinerzeit ausgesetzt war und was für eine Befreiung es bedeutet, wenn die damit verbundenen Zwänge hinfällig werden. Auch Virginia Woolf gibt zu, die Lebensgeschichten von Schwulen seien »nicht unbedingt von fesselndem Interesse oder überragender Bedeutung« – jedenfalls nicht mehr als die anderer Leute. Doch »die Tatsache, dass sie offen erwähnt werden können«, gibt sie zu bedenken, »führt zu der Tatsache, dass niemand sich daran stört, wenn sie im Privaten praktiziert werden«. Das Reden sanktioniert das Tun. Dank der neuen Redseligkeit sind die sentimentalen Vorstellungen von Liebe und Ehe, mit denen sie aufgewachsen ist, auf einmal passé. Aber auch die Sitten und Gewohnheiten revolutionieren sich. Das Sprechen über Sex führt auch zu neuen Möglichkeiten von Sex. Vanessa war in derlei Dingen viel aktiver als ihre Schwester. Bei Partys konnte es passieren, dass sie schon einmal alle Hüllen fallen ließ. Sie soll sogar den Aufbau einer Gesellschaft mit sexueller Freiheit für alle

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