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Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Titel: Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bollmann
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Platz, kann es passieren, dass sie sich in eine dunkle Ecke zurückzieht und dort in ein Buch vertieft. Da die Nachmittage und Abende der jungen Frau voller gesellschaftlicher Verpflichtungen sind, bleiben nur die Vormittage, wo man die große Welt ignorieren und den eigenen Interessen nachgehen kann. Ihre Schwester, die spätere Malerin Vanessa Bell, fährt morgens mit dem Rad in eine Kunstschule zum Zeichenunterricht. Virginia verschwindet nach dem Frühstück in die Klause ihres Jugendzimmers, um zu lesen und sich zu bilden. Der Tisch, an dem sie studiert, ist so hoch, dass sie gezwungen ist zu stehen, während sie sich über die Bücher beugt. Virginia weiß von Vanessa, dass Maler im Stehen arbeiten, und die jüngere Schwester will der älteren an Ernsthaftigkeit in nichts nachstehen, selbst wenn sie ihre Studien zu Hause betreibt. Anfangs sucht noch der Vater aus seiner Bibliothek die Bücher zusammen, deren Lektüre er seiner Tochter empfiehlt; seit sie fünfzehn oder sechzehn ist, trifft sie die Wahl selbst. Doch nach wie vor hält sie sich an die Maxime Leslie Stephens, dass ein Buch wirklich und wahrhaftig zu lesen bedeutet, für diese Zeit die eigene Persönlichkeit abzulegen und ein Teil des Autors zu werden.
    Das Curriculum, das sie sich verordnet hat, lautet, vereinfacht gesagt, Weltliteratur – von der Antike bis zur Gegenwart mit dem Schwerpunkt auf englischen Schriftstellern. Manchmal liest Virginia bis zu vier Bücher gleichzeitig. Neben den Vormittagsbüchern, die sie zwischen zehn und eins studiert, gibt es die Bücher fürs Abendessen und für ungewöhnliche Augenblicke, sogar solche, die für jene leere Zeit bestimmt sind, in der ihr vom Mädchen die Haare hochgesteckt werden. Auch zu Bett begibt sie sich natürlich nicht ohne Lesestoff, obwohl das eigentlich nicht gerne gesehen ist. Wenn sie jemanden kommen hört, versteckt sie das Buch schnell. Doch diese Heimlichkeit gehört mit zum Vergnügen, das die Bücher für die Nacht bereiten.
    Neben Romanen gilt Virginias Vorliebe schon bald Essays und Biographien. Sie belegt Privatstunden in Latein und Griechisch, auch um irgendwie Schritt zu halten mit Thoby, der erst das Clifton College in Bristol und ab 1899 das Trinity College der Universität Cambridge besucht. Insbesondere die Mutter, die über die Rolle der Frau sehr traditionell denkt, hat keine Notwendigkeit darin gesehen, die beiden Töchter auf eine Schule zu schicken. Jedes Jahr im Frühsommer legt Virginia sich die Bücher zurecht, die sie in die langen Sommerferien mitnehmen will. 1903 sind das die Werke von Euripides, Dante, Shakespeare, Edmund Burke sowie historische Bücher – Lektüren einer Bildungshungrigen. Anders als ihre Brüder geht Virginia nicht auf die Universität – die standesgemäßen Hochschulen nehmen erst Jahrzehnte später Frauen auf; Oxford gibt Frauen erst 1920, Cambridge sogar erst 1948 die Möglichkeit zu einem Abschluss. Beide sind seinerzeit für ihre geradezu aggressive Frauenfeindlichkeit bekannt. In Ein eigenes Zimmer aus dem Jahr 1929, einem der meistzitierten Bücher der Frauenbewegung, nennt Virginia das gesellschaftliche Syndrom, das Frauen von höherer Bildung fernhält und auf bestimmte »weibliche« Rollen festlegt, in Zusammenziehung der beiden Namen der Traditionsuniversitäten »Oxbridge«: Ochsenbrücke.
    Virginia trägt schwer an dem Gefälle zwischen sich und dem Bruder, den sie im geselligen Kreis intellektueller Studienfreunde weiß, während sie sich alles mühsam und allein aus Büchern zusammenklaubt. »Kein Wunder, dass mein Wissen dürftig ist. Es gibt gewiss keinen besseren Lehrmeister als das Gespräch«, schreibt sie an den Bruder in einer Mischung aus Eifersucht und Resignation. Man hat zwar gemutmaßt, dass der Mangel an universitärer Ausbildung die überschäumende Phantasie der späteren Schriftstellerin davor bewahrt habe, von akademischer Disziplin reglementiert und womöglich ausgetrocknet zu werden, aber Virginia Woolf empfindet es zeitlebens als ein Stigma, nur mangelhaft gebildet zu sein. »Welches Recht habe ich, eine Frau, alle diese Sachen zu lesen, die Männer gemacht haben?«, fragt sich die gut Zwanzigjährige in einem ihrer vielen Anflüge von Selbstzweifeln. Und fügt hinzu: »Sie würden lachen, wenn sie mich sähen.« Die Angst, sich auf ein von Männern besetztes Terrain vorzuwagen, wo sie als Frau nichts zu suchen hat und sich womöglich blamiert, kehrt regelmäßig wieder. Zu dem Zeitpunkt, als sie diese

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