Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Titel: Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bollmann
Vom Netzwerk:
vorgeschlagen haben. Ob sie allerdings, wie man munkelte, bei einer Party coram publico auf dem Boden des Salons mit dem schon damals als bedeutend geltenden Ökonomen John Maynard Keynes geschlafen hat, ist nicht verbürgt. Vanessa heiratete zwar unmittelbar nach dem Tod des Bruders Thoby den wohlhabenden Erben Clive Bell, auch ein Mitglied des Kreises, und das Paar bekam in rascher Abfolge zwei Kinder. Doch angestachelt durch die Untreue ihres Mannes, hatte sie bald einen Liebhaber, und später zog sie mit dem Maler Duncan Grant zusammen, von dem sie ein drittes Kind bekam, obwohl er schwul war und es fast keinen Mann im Bloomsbury-Kreis gab, mit dem er nicht ins Bett gegangen war. Unter seinen Geliebten war neben dem schon erwähnten Keynes auch Lytton Strachey, der den Samen auf Vanessas Kleid entdeckt hatte und dessen pornographische Gedichte im Kreis der Freunde kursierten, von Vanessa fein säuberlich abgetippt. Strachey, der mit seiner ironischen Biographie Königin Victorias große Erfolge feierte, lebte später mit der Malerin Dora Carrington und dem Major Ralph Partridge, der von 1920 bis 1923 für die Hogarth Press arbeitete, in einer Ménage à trois zusammen. Jede(r) der drei hatte darüber hinaus noch wechselnde Sexualpartner.
    Die gegen alle Zwänge und Konventionen gerichtete Atmosphäre von Bloomsbury war nicht an den gleichnamigen Londoner Stadtteil gebunden, aus dem es die Mehrzahl der Beteiligten schon bald fortzog. Sie erwies sich als mobil und begleitete sie in die Häuser auf dem Land, die sich die Bloomsberries, wie sie sich nannten, in der schönen Hügellandschaft südlich von London und nahe dem Meer einrichteten, um dort in wechselnden Konstellationen zu leben und zu arbeiten. In Sachen Sex und Liebe haben die Stephen-Schwestern und ihr Kreis lange vor den Kommunen der 1968er Zeit in der Tat alles ausprobiert. Die meisten von ihnen waren bisexuell und machten nicht nur keinen Hehl daraus, sondern lebten ihre Doppelorientierung aus. Das traf auch für Leonard Woolf zu. »Living in Squares, loving in Triangles«, hieß es, bezogen auf den Umstand, dass ihre Londoner Wohnungen sich häufig an Plätzen befanden: Gordon Square, Bedford Square, Tavistock Square, Fitzroy Square, Mecklenburgh Square. Auseinandersetzungen blieben, kaum verwunderlich, nicht aus, nie aber kam es zu endgültigen Verwerfungen. Die Bloomsberries experimentierten mit ihrer Sexualität, ohne dabei ihre Existenz als Schöngeister aufzugeben und die Gewohnheiten von Polit-Prolos und die Denkweise von Ideologen anzunehmen. Von Clive Bell stammt der Satz: »We are not going to be divorced – we reorganize« – Bloomsberries lassen sich nicht scheiden, sie organisieren sich um. Die Mitglieder bewegten sich zwar in einem engen Raster, konstellierten sich aber immer wieder neu. Das ging so weit, dass der Geliebte von Duncan Grant irgendwann dessen Tochter ehelichte, die er gemeinsam mit Vanessa Bell hatte.
    Über diese persönlichen Bindungen hinaus ist Bloomsbury vor allem der Name für einen radikalen Strich unter das 19. Jahrhundert: für ein neues Sehen, Fühlen und Denken, das von der Kunst und der Literatur ausging, die den Beteiligten zum Schlüssel zu einer neuen, ungezwungenen und unabhängigen Lebensweise wurde. Virginia Woolf wird das später auf die Formel bringen, »dass ungefähr im Dezember 1910 der menschliche Charakter sich veränderte«. Zu diesem Zeitpunkt fand – noch vor der Sonderbund-Ausstellung 1912 in Köln und der legendären Armory-Show 1913 in New York – in London eine Ausstellung mit moderner Kunst statt. Gezeigt wurden Gemälde von Monet, Manet, Cézanne, van Gogh, Gauguin, Maurice Denis, André Derain, Odilon Redon, Georges Rouault, Félix Vallotton, Maurice de Vlaminck, Picasso und Matisse, vom Letzteren auch acht Skulpturen. Keines der Bilder, auch die älteren unter ihnen, war zuvor in England zu sehen gewesen. Die von der Schau ausgelösten Wellen der Empörung waren genauso gewaltig wie die Wogen der Begeisterung, die sie entfachte. Beide prallten aufeinander und verursachten ein gehöriges Getöse in den Feuilletons und den Salons. Während die kultivierten Bürger, die ihren Geschmack an der Kunst des 19. Jahrhunderts geschult hatten, über die niederträchtige Leugnung alles dessen zeterten, was in der Vergangenheit großartig und ihnen heilig war, sahen die Bloomsberries und die anderen Bohemiens durch die Ausstellung gerade jene Mischung aus Bequemlichkeit und Verlogenheit

Weitere Kostenlose Bücher