Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Titel: Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bollmann
Vom Netzwerk:
Jahre später bringt sie einen Sohn zu Welt. Und wieder reflektiert sie ihre Lebenssituation im Spiegel der Literatur. Sie liest George Eliots Roman Middlemarch und bricht nach einem Drittel des Buches in Tränen aus, weil sie sich nicht nur in Dorothea Brooke, der weiblichen Hauptfigur, einer ernsthaften bildungshungrigen jungen Frau, wiedererkennt, sondern ebenfalls einen Mr Casaubon geheiratet hat. Middlemarch , einer der englischen Klassiker des 19. Jahrhunderts, in Buchform erstmals 1874 veröffentlicht, hat wie Gustave Flauberts Madame Bovary einen Untertitel, der ebenfalls auf die Provinz verweist: Eine Studie über das Leben in der Provinz . Middlemarch ist ein fiktiver Ort in Mittelengland und der Schauplatz der Lebensschicksale, von denen der Roman erzählt. Dorothea hat die Avancen eines jüngeren Mannes zurückgewiesen, um den wesentlich älteren Pastor Edward Casaubon zu heiraten, von dem sie sich eine Befriedigung ihrer intellektuellen und sozialen Ambitionen erhofft. Doch die Ehe erweist sich als ein fataler Missgriff. Statt Dorothea in ihrem Lerneifer zu unterstützen und sie an seiner intellektuellen Welt teilhaben zu lassen, beneidet er sie um ihre jugendliche Energie, ihren Witz und ihre Lebendigkeit und straft sie mit Verachtung.
    1958 dann, da ist sie fünfundzwanzig Jahre alt, nimmt Susan Sontag ein Jahr Urlaub von Ehe und Familienleben, die sie zunehmend als Einengung erlebt, und geht nach Europa. Der offizielle Grund ist, die Arbeit an ihrer letztlich nie geschriebenen Dissertation voranzutreiben, insgeheim aber geht sie zu ihrem Ehemann auf Distanz und erkundet für sich neue Wege des Lebens, die für sie nach wie vor mit einer Existenz als Schriftstellerin verbunden sind – eine Dimension, die im Zusammenleben mit Philip Rieff nahezu verkümmert ist. Nach einem viermonatigen Aufenthalt in Oxford zieht sie weiter nach Paris, wo sie die Geliebte aus Jugendtagen wiedertrifft und sich im Künstlerviertel Saint-Germain-des-Prés eine kleine Mansardenwohnung nimmt, als bedürfte es nur der richtigen, von Mythen und Legenden genährten Umgebung, um den bislang stockenden Schreibfluss zu entfesseln.
    Susan Sontag greift zum Tagebuch, um ihre literarischen Ambitionen auszuleben, aber statt Literatur zu verfassen, reflektiert sie erst einmal über die Bedeutung des Schreibens für ihre Identität: Autorin möchte sie nicht deshalb sein, weil sie etwas zu erzählen hat, sondern sie will schreiben, um ein anderes Leben als das bisherige zu führen. In Paris macht sie die Erfahrung, wie stark ihr Wunsch, Autorin zu sein, mit ihrer sexuellen Orientierung verbunden ist. Nachdem sie sich, zurück in den USA, von ihrem Mann getrennt hat und nun als alleinerziehende Mutter in New York lebt, ist mit der ersten erfüllten lesbischen Beziehung plötzlich auch die bis dahin anhaltende Schreibhemmung gebrochen. »Zum Orgasmus kommen zu können hat mein Leben verändert«, vertraute sie zu dieser Zeit ihrem Tagebuch an: »Es gelüstet mich zu schreiben. Zum Orgasmus kommen zu können bedeutet nicht die Erlösung meines Ichs, sondern vielmehr dessen Geburt … Schreiben heißt, sich vergeuden, sich riskieren. Aber bisher gefiel mir nicht einmal der Klang meines Namens.«
    Die später in den USA bekannte feministische Dramatikerin María Irene Fornés, ihre damalige Geliebte, und Susan Sontag erinnerten sich später gerne daran, wie ein gemeinsames Gespräch über ihre Schreibhemmungen zur Initialzündung dafür wurde, sofort mit dem Ersehnten anzufangen. Die beiden sollen daraufhin wochenlang einander gegenüber an einem Tisch in ihrer Wohnung gesessen haben, jede vor ihrer Schreibmaschine, ihre Arbeit nur unterbrechend, um sich gegenseitig Passagen vorzulesen. Auf diese Weise begann Susan Sontag mit Der Wohltäter, ihrem avantgardistischen Roman über einen Sechzigjährigen, dessen Pariser Bohemeleben und skurrile Traumwelten sich bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander vermischen.
    Heute muss man daran erinnern, mit welchen Tabus nicht-heterosexuelle Beziehungen und Erlebnisweisen in den 1950er und 1960er Jahren noch belegt waren. Homosexualität stand damals in New York unter Strafe. Susan Sontag wird sich ihr ganzes Leben nicht zu ihren lesbischen Neigungen bekennen, auch später nicht, als sie, ein offenes Geheimnis, mit der Starfotografin Annie Leibovitz zusammenlebt. Es war wohl eine anhaltende Reaktion darauf, dass ihr Ex-Ehemann ihr anfänglich das Sorgerecht für den Sohn streitig zu machen versuchte,

Weitere Kostenlose Bücher