Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
New York und Tianjin pendelte, starb in jungen Jahren an Tuberkulose, da war das Mädchen erst fünf. Die nun alleinerziehende, stark dem Alkohol zusprechende, emotional distanzierte Mutter ließ die Tochter über vier Monate im Ungewissen darüber, was mit dem Vater passiert war; eines Tages dann erzählte sie ihr unvermittelt, dass er seit längerem tot sei – für das Mädchen eine traumatische Erfahrung.
Der mit dem Tod des Vaters verbundene finanzielle und soziale Abstieg der Familie sowie ein bei Susan ausbrechendes Asthma zogen mehrere hektische Umzüge nach sich: erst nach Florida, dessen feuchtes, subtropisches Klima die Erkrankung nur noch verschlimmerte, wenige Monate später dann nach Tuscon in der Wüstenlandschaft Arizonas, wo Susan eingeschult wurde, und noch einmal sieben Jahre darauf nach Los Angeles, wo sie die Highschool besuchte. Als Andrew Wylie, Susan Sontags Literaturagent seit den 1980er Jahren, Jahrzehnte später Arizona bereiste, zeigte ihm ein Freund den Bungalow, ein in den Boden zementiertes Haus auf Rädern, in dem Susan Sontag ihre Kindheit verbracht hatte. Wylie berichtete Daniel Schreiber, dem deutschen Biographen Susan Sontags, von seiner grenzenlosen Verblüffung:
Was ich sah, war ein Akt der Selbsterfindung, der Susan ausmachte. Eine so gebieterische, kulturell zutiefst gebildete und kosmopolitische Intellektuelle zu werden, ausgehend von diesem heruntergekommenen kleinen Trailer am Rande Tuscons, einem der trostlosesten Orte, an dem man in diesem Land leben kann, das war unglaublich.
Sehr früh, schon mit drei Jahren, hatte Susan lesen gelernt. Seitdem sie sechs war, las sie »richtige Bücher«, darunter auch auf die Bedürfnisse Jugendlicher zugeschnittene, gekürzte Ausgaben von Klassikern. Sie erinnerte sich später an Victor Hugos Die Elenden , an die Erzählungen nach Shakespeare von Charles Lamb, aber auch an 20000 Jahre in Sing Sing , das berühmte, zweimal verfilmte Buch des Gefängnisdirektors und Reformers des amerikanischen Strafvollzugs Lewis Edward Lawes. Zu den einflussreichsten Lektüren ihrer Kindheit gehörte Ève Curies Biographie ihrer Mutter Marie Curie, der Entdeckerin der Radioaktivität und zweifachen Nobelpreisträgerin, einer Autodidaktin, die sich Mathematik und Physik in einsamen Studien während ihrer Tätigkeit als Gouvernante in wohlhabenden Familien beigebracht hatte. Für die kleine Susan war nach der Lektüre klar, was sie werden wollte: Chemikerin oder Physikerin, und das am liebsten, gleich Marie Curie, in Paris, der Stadt, in der schon viele ihr Glück gemacht hatten, denen es zu Hause zu eng geworden war.
Als sie dann mit zwölf Jahren Jack Londons Künstlerroman Martin Eden in die Finger bekommt, ändert sich ihr Berufswunsch noch einmal. In diesem Bildungsroman mit stark autobiographischen Zügen erzählt London die Geschichte eines Matrosen, der wie sein Autor aus ärmlichen Verhältnissen stammt. Die Begegnung mit einer jungen Frau aus der Mittelschicht, die von seinem ungeschliffenen Benehmen und seiner vulgären Ausdrucksweise anfangs schockiert ist, sich andererseits von seiner Vitalität und seinem wachen Intellekt angezogen fühlt, weckt bei Martin die Motivation, sich selbst zu bilden und zu kultivieren. Dilettantisch und planlos sind die Anfänge, aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Der Matrose entwickelt sich zu einer interessanten Persönlichkeit, deren Passion die Schriftstellerei ist. Nur der Erfolg will sich nicht einstellen. Zudem bringt Ruth Morse, die junge Dame, für seine Abenteuergeschichten, Gedichte und Essays auch nicht das rechte Verständnis auf, weil sie den Realismus seiner literarischen Produkte im Vergleich zu ihren viktorianischen Romanen als unfein empfindet. So zerbricht die Beziehung, doch genau in diesem Moment stellt sich der lang ersehnte Erfolg ein: Martins Bücher werden Bestseller, und er ist auf einmal in den Augen von Ruths Mittelschichtsfamilie eine gute Partie. Doch enttäuscht von Ruth und angeekelt von der Unaufrichtigkeit der bürgerlichen Moral, ist sein Lebenswille, für den er von allen bewundert wurde, gebrochen. Auf hoher See nimmt Martin Eden sich das Leben.
So kommt es, dass die kleine Susan Schriftstellerin werden will – abzüglich natürlich des düsteren Schicksals, das Jack London seinem Helden bereitet. Sie versteht sich selbst als eine heldenhafte Autodidaktin und die Schriftstellerexistenz als eine heroische Berufung. Jack Londons Held, obwohl ein Mann, ist für eine
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