Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
aufzubrechen und nach der eigenen Fasson zu leben; die überkommene, konventionelle Beschreibung der Welt hinter sich zu lassen und neue Formen der Beschreibung zu erfinden, die attraktiv sowohl für die eigene als auch für die nachkommende Generation sind. An Susan Sontag lässt sich exemplarisch studieren, welche bedeutende Rolle in dieser Hinsicht die Lektüre (und natürlich auch das Verfassen) von Literatur, insbesondere von Romanen, haben kann.
In den Notizheften, die sie seit ihrer Pubertät führt und die ihr zur spontanen Niederschrift von Gedanken und Selbstreflexionen, aber auch zur Selbstermahnung und als Besorgungslisten dienen, kommt Susan Sontag immer wieder auf ihre Lektüre zu sprechen. Als Fünfzehnjährige notiert sie etwa:
1.9.48
So bald wie möglich Stephen Spenders Übersetzung der Duineser Elegien lesen.
Vertiefe mich derzeit wieder in Gide – welche Klarheit und Präzision …
10.9.48
Habe dieses Buch [André Gides Journal] an dem Tag, an dem ich es gekauft habe, fertig gelesen, nachts um halb drei – … ich lese dieses Buch nicht nur, ich erschaffe es selbst …
19.12.48
Es gibt so viele Bücher, Theaterstücke und Erzählungen, die ich lesen muss …
Tar – Sherwood Anderson
Das Erbe im Blut – Ludwig Lewisohn
Die Freistatt – William Faulkner
Esther Waters – George Moore
Tagebuch eines Schriftstellers – Dostojewski
[Die Liste erstreckt sich über mehr als fünf Seiten, es werden mehr als hundert Titel aufgeführt.]
1.3.49
Habe mir heute Kontrapunkt des Lebens gekauft und sechs Stunden am Stück gelesen, um es fertig zu kriegen. Huxley schreibt eine wunderbar selbstbewusste Prosa …
April 1949
Hier in meinem unverhohlenen Alleinsein [die jetzt sechzehnjährige Susan war mittlerweile an der Universität von Kalifornien in Berkeley immatrikuliert] habe ich mir zumindest einiges erschlossen, was mich erfreut und entschädigt – Musik, Bücher, das laute Lesen von Gedichten. Ich muss niemandem etwas vormachen, ich verfüge frei über meine Zeit – zu Hause finden ständig diese hohlen, ritualisierten Freundlichkeitsbekundungen statt – eine schreckliche Zeitverschwendung – ich muss mit meiner Zeit in diesem Sommer sorgsam haushalten, denn es gibt viel zu tun –
14.4.49
Ich habe gestern [Djuna Barnes’] Nachtgewächs gelesen … So möchte ich auch schreiben – reich und rhythmisch – eine schwere, sonore Prosa …
Das sind Aufzeichnungen einer extrem motivierten und ehrgeizigen Hochbegabten, die von dem Wunsch beseelt ist, möglichst schnell erwachsen zu werden. Aber sie lassen sich doch nicht darauf reduzieren. Auf exemplarische Weise belegen sie die entscheidende Rolle der Lektüre von Romanen und anderen fiktionalen Texten im Leben einer jungen Frau, die sich nicht einlassen will auf die Rollenangebote, die ihr von der unmittelbaren Umwelt gemacht werden, die vielmehr auf der Suche nach dem eigenen Weg ist und einem Selbstbild, das ihren Wünschen und Sehnsüchten entspricht.
In ihren Tagebüchern kreist die junge Susan Sontag jedoch nicht nur um Literatur, sondern auch um ein weiteres Thema: Sehr früh entdeckt sie ihr Hingezogensein zum eigenen Geschlecht. »So wie ich früher auf eine angstvolle und neurotische Weise gläubig war und meinte, irgendwann Katholikin werden zu müssen, habe ich jetzt das Gefühl, lesbische Neigungen zu haben (wie ungern ich das schreibe)«, notiert die gerade Fünfzehnjährige voller Misstrauen gegen die eigenen Gefühle. Als sie wenig später zum ersten Mal von einem Jungen geküsst wird, schreibt sie: »Was ich weiß, ist sehr hässlich und so unerträglich, weil es sich nicht vermitteln lässt – ich habe mich bemüht! Ich wollte reagieren! Ich wollte mich unbedingt körperlich zu ihm hingezogen fühlen und wenigstens beweisen, dass ich bisexuell bin.« (Wenig später setzt sie am Rand hinzu: »›Wenigstens bisexuell!‹ – was für eine idiotische Idee!«) Ihre exzessive Lektüre André Gides und auch Thomas Manns erfolgt vor dem Hintergrund des diffusen Bewusstseins der eigenen sexuellen Andersartigkeit. Mit fünfzehn hat sie ihr erstes sexuelles Erlebnis mit einer Frau, das sie genießt und als Selbstbefreiung empfindet.
Dennoch heiratet sie sehr früh, bereits mit siebzehn, den Universitätsdozenten Philip Rieff, der älter aussieht als seine achtundzwanzig Jahre und der für sie eine Art Vaterersatz zu sein scheint. Rieff ist ein traditioneller Mann, der geheiratet hat, um eine Familie zu gründen. Zwei
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