Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Heranwachsende, die sich in ihrer Familie, aber auch in ihrer Umgebung als Außenseiterin fühlt, ein dankbares Identifikationsobjekt. Susan besucht die Schule, überspringt sogar mehrfach Klassen – aber sie weiß, dass eine gute Ausbildung für eine Frau lange Zeit keineswegs selbstverständlich war. Den Proletarier Martin Eden und das Mädchen, das über ihr Frausein nachzudenken beginnt, verbindet die Opposition zu einer Welt, in der Konvention und Status darüber bestimmen, ob jemand Erfolg hat oder nicht.
Der englische Schriftsteller Graham Greene hat den Moment, in dem wir bewusst zu lesen beginnen, einen »gefährlichen Augenblick« genannt. Gefährlich sei dieser Augenblick nicht nur, weil er uns dazu verleiten kann, das kindliche Gefühl der Ohnmacht gegen die Vorstellung einzutauschen, unsere Gedanken hätten unbegrenzte Macht über unser Leben. Gefährlich ist dieser Augenblick laut Graham Greene vor allem deshalb, weil wir mit den Büchern, die wir aus den Regalen holen, um sie zu lesen, auch unsere Zukunft heranholen. Greene ging davon aus, dass die Bücher, die wir als Kind und später als Jugendlicher lesen, einen besonderen, nachhaltigen Einfluss auf uns ausüben, der weit über diese Lebensphase hinausreicht. Diese Bücher bestimmen unsere Zukunft mit, weil sie unsere Wünsche und Vorstellungen sowie vor allem unser Bild von uns selbst prägen.
Sie habe ihre Kindheit in einem Delirium literarischer Höhenflüge durchgestanden, behauptete Susan Sontag später:
Ich wollte anderswo sein. Und das Lesen sorgte für beseligende, bestärkende Distanzierung. Dank des Lesens – und der Musik – bestand meine tägliche Erfahrung darin, in einer Welt von Menschen zu leben, die sich einen Dreck um die Intensität scherte, zu der ich mich bekannte. Ich fühlte mich, als käme ich von einem anderen Planeten – eine Phantasie, die ich den unschuldigen Comics dieser Zeit entliehen hatte, denen ich auch verfallen war.
Lesen war für sie ein Triumph; Susan Sontag nennt ihn den »Triumph des Nicht-ich-selbst-sein-Müssens«. Zustimmend zitiert sie Virginia Woolfs Beschreibung, dass der Vorgang des Lesens in einer »völligen Eliminierung des Ichs« bestehe. Das mache ihn so reizvoll, erkläre seinen Suchtfaktor. Lesend nehmen wir das, was unsere oftmals ungeliebte Wirklichkeit ausmacht, in die Möglichkeitsform zurück. Wir hängen der Vorstellung nach, wie es wäre, wenn wir nicht die und die Person sein müssten mit dem besagten Namen, den Eltern, dem hinter unseren Erwartungen zurückgebliebenen Lebenslauf. Wie es wäre, wenn die Welt uns nach wie vor für jede Form der Selbstverwirklichung offenstünde. Als könnten wir noch einmal das »unbeschriebene Blatt« ganz am Anfang des Lebens sein, von dem heute die Psychologen sagen, dass wir es nie waren.
Doch das ist keineswegs schon die ganze Wahrheit über den Lektürerausch. Beim Lesen legen wir nicht nur unser gewöhnliches Ich ab, wir entwerfen es auch neu. Wir probieren Lebensentwürfe an wie Kleider, etwa den einer heroischen Schriftstellerexistenz, wie sie Martin Eden in Jack Londons Buch so suggestiv verkörpert. Für Susan Sontag wurde die wiederholte Lektüre dieses Künstlerromans in der Tat zu einem entscheidenden Erlebnis; so entscheidend, dass sie sich später nicht damit begnügen konnte, eine allseits gerühmte Essayistin zu sein, sondern den eigentlichen Beweis ihres Erfolgs in der Anerkennung als Romanschriftstellerin suchte.
Neben der vorübergehenden Auslöschung der eigenen Person führt emphatisches Lesen auch zur Neuerfindung der eigenen Rolle in der Welt. Das muss nicht immer durch Identifikation mit einer fiktiven Figur, einem idealen Ich, zustande kommen. Es kann auch im Gegenentwurf erfolgen. Romane sind offene Kunstwerke, unabhängig davon, welches Ende sie nehmen. Sie bieten ihren Leserinnen und Lesern stets einen Ausweg.
»In Amerika glauben wir immer daran, noch einmal neu anfangen, das Blatt wenden, uns erfinden und uns transformieren zu können«, sagte die siebzigjährige Susan Sontag in einem Fernseh-Interview. Selbsterfindung ist gewiss ein so charakteristischer wie bemerkenswerter Zug des American Way of Life. Selbsterfindung ist aber auch ein Grundzug moderner Lebensführung allgemein. Ihr Kern ist, sich nicht mit den Bedingungen zu begnügen, die uns durch Geburt und durch die Verhältnisse, in denen wir aufwachsen, vorgegeben sind, sondern sich eigene Bedingungen zu schaffen; die Krusten ererbter Lebensumstände
Weitere Kostenlose Bücher