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Freakshow

Freakshow

Titel: Freakshow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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nächtliche Fesselungen im Wald? Wer hatte hier wen gefesselt und warum? Mehrere kurze, irgendwie scharf klingende Geräusche rissen mich aus meinen Gedanken. Ein vierschrötiger Halbwüchsiger in Feinripp-Unterhemd und Baggys, großflächige, entzündet aussehende Sonnenbrandverletzungen auf dem Kahlschädel, schlurfte gelangweilt um die Lichtung und drosch mit einem Degen auf das Blattwerk ein. Seine kunstlos tätowierten Arme erinnerten an Schweinehälften, auf denen sich ein umnachteter Fleischbeschauer mit seinem Trichinenstempel ausgetobt hatte. So gut wie alles an ihm sagte >Jugendarrest<.
    »Hab dich gesehen, Spanner«, sagte er zu mir, ohne den brandblasigen Kopf zu wenden.
    »Wieso Spanner?«, fragte ich und trat auf die Lichtung. »Weil sich hier im Wald nur Spanner oder Kinderficker herumtreiben.«
    »Und wer sagt, dass ich kein Kinderficker bin?« Er sah mich das erste Mal an. Seine Augen standen so weit auseinander, dass man ihm unweigerlich vor die Stirn blickte, wie einer Kuh.
    »Nicht der Typ«, fand er, und ich fragte mich, ob das ein Kompliment war.
    »Und was gibt’s deiner Meinung nach hier zu spannen?«
    Er drehte sich von mir weg, holte aus und trennte eine Blüte von einem Strauch.
    »Du glaubst ja gar nicht, was hier gefickt wird«, sagte er gleichgültig.
    »Hier? Mitten im Wald?«
    Er wies mit dem Kopf in die ungefähre Richtung des weiß gestrichenen Gebäudes, das mir schon beim letzten Besuch aufgefallen war.
    »Heim«, erklärte er, wirbelte einmal um seine Achse und köpfte eine Herkulesstaude. Für jemanden mit seiner Figur war er recht flink, geradezu leichtfüßig. Die suppenschüsselgroße Blüte brauchte einen verblüfften Moment, bevor sie fiel. »Für schwer Erziehbare.« Zack, noch eine kopflose Staude. »Wie mich.« Er seufzte genervt.
    »Und als Nächstes erzählst du mir, die Heimleitung lässt euch alle mit scharfen Hiebwaffen herumlaufen?«
    »Fechten«, sagte er und schnitt, fast schon aus dem Handgelenk, einer weiteren Staude die Runkel vom Stängel, »ist Teil meiner Therapie.«
    Und er verzog das Gesicht zu einem schwachen, vertraulichen Grinsen. Wie um mich an einem privaten Joke teilhaben zu lassen. Dem Witz, der sich >Therapie< nennt. Er wurde mir gruselig. Erfahrene Psychiatrie-Patienten sind in der Lage, so gut wie alles zu ihren Gunsten ausgelegt zu bekommen. Und sei es noch so krank. Kurz, sie können machen, was sie wollen, und die einzige Konsequenz sind meist nur noch mehr Therapiesitzungen. »Aggressionsabbau und so«, erläuterte er und halbierte eine vorwitzig ihren Strauch überragende Brombeere. »Persönlichkeitsfestigung und so. Durch sportlichen Wettkampf und so.« Fast ohne hinzusehen, trennte er auch die verbliebene Beerenhälfte vom Strauch. »Sobald ich mein Abi habe, gehe ich in eine schlagende Verbindung.«
    Ja, ich konnte mir vorstellen, wie die elitären Vereine miteinander wetteiferten, nur um diesen grobschlächtigen Heimzögling in ihrer Mitte willkommen zu heißen.
    »Und falls man mich nicht freiwillig aufnimmt, werde ich klagen.«
    Ich hatte meine Zweifel, was den Erfolg einer solchen Klage anging, doch ich hielt den Mund. Auch Juristen wollen leben.
    »Wegen sexueller Diskriminierung.« Im Laufe eines längeren, perplexen Schweigens wurde mir bewusst, dass ich hier mit einer Frau, einem Mädchen, einem wie auch immer weiblichen Wesen konferierte.
    »Gute Idee«, meinte ich dann. »Ich habe immer schon gesagt, in ein echtes Frauengesicht gehören ein paar Narben.«
    Keine Reaktion. Ein Paar Tannenzweige fielen.
    »Man nennt das Schmisse«, sagte sie schließlich. »Und doch sind es Narben. Rituelle Narben. Wie bei manchen Naturvölkern.« Ab und zu kann ich den Mund nicht halten, bricht sich in mir der Klugscheißer Bahn, furchtbar.
    Ein Degenhieb kürzte einen toten Ast, nicht weit von meinem rechten Ohr entfernt. »Hör zu, Mädchen …«, begann ich. »Priscilla«, unterbrach sie mich.
    Mir geriet eine Fluse in den Hals, die ich kurz weghusten musste. »Hör zu, Priscilla«, begann ich erneut. »Könntest du mit deinem Degen irgendwo ein bisschen weiter weg von meinen Ohren herumfuchteln? Mir fällt gerade auf, dass ich nur zwei davon besitze.«
    »Das ist ein Schläger«, korrigierte sie mich, »eine studentische Duellwaffe.« Sie bückte sich, hob eine Kastanie auf. »Mit stumpfer Klinge. Bis auf …« sie warf die Kastanie senkrecht in die Luft, »die obersten zehn Zentimeter.« Der Schläger pfiff, als sie die herabfallende

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