Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Freakshow

Freakshow

Titel: Freakshow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
Vom Netzwerk:
»Es wird wohl Zeit, dass Sie ein paar Ihrer Vorurteile gegen mich revidieren.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Müssten Sie nicht allmählich zum Dienstantritt?«
    »Sicher«, sagte ich und ließ sie stehen, beziehungsweise sitzen.
    Die erste Laterne flackerte auf, beschien ein Grüppchen, das mir langsam, Schritt für Schritt auf der anderen Straßenseite entgegenkam und plötzlich stehen blieb. Ich erkannte Sonny und Cher, Albertine, die heute in einem grünen Glockenrock und grünem Hut wie eine Figur aus einem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel aussah, und in ihrem Schatten Lil Bow Wow, die bei meinem Anblick aufleuchtete wie die Laterne über ihr, nur röter. Zuerst wollte ich zu ihr rüber, doch sah ich sie sich schon im Ansatz zurückziehen, fluchtbereit, genau wie die angstneurotische Albertine auch, also setzte ich meinen Weg einfach fort. Was auffiel, unübersehbar, war die flammende Röte und offensichtliche Verlegenheit, die sich von Lil Bow Wow epidemisch auf die anderen des Grüppchens übertrug, selbst auf Sonny und Cher, von denen ich bisher noch keinen anderen Ausdruck kannte als den offenmündigen Staunens.
    Eigentlich hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, doch es brannte noch Licht in der logopädischen Praxis. Seit den freimütigen Geständnissen der Grotzki-Geschwister wusste ich eine Menge und konnte trotzdem nichts damit anfangen. Nicht ohne dass Alfred meine Aussagen bezeugte.
    Ich hörte Angelika Butzkes weiche, geduldige Stimme durch das offene Fenster und zog mich am Fensterbrett hoch, bis ich in ihr Behandlungszimmer spähen konnte. Statt Alfred saß eine Patientin vor dem Schreibtisch und mühte sich mit Artikulationen ab. »Wo ist denn Alfred?«, fragte ich, und beide Frauen zuckten zusammen.
    »Herr Kryszinski!« Die Logopädin sprang auf, stürmte zum Fenster, blickte mit funkelnden Augen auf mich herab. »Können Sie nicht anklopfen und zur Tür hereinkommen wie andere auch?« Rund, weich, temperamentvoll. Wundervolle Mischung.
    »Wo ist Alfred?«, wiederholte ich, um sie nicht zu schnell zu besänftigen.
    »Alfred ist abgeholt worden«, antwortete sie finster. »Von wem?«
    »Mir war das gar nicht recht«, sagte sie, »und auch Alfred schien seine Bedenken zu haben. Wir standen kurz vor einem Durchbruch, vor einer Aussage. Trotzdem ist er schließlich mitgegangen. Sie haben etwas von einem therapeutischen Sommerfest erzählt, von dem ich vorher noch nie etwas gehört hatte, und dass Alfreds Teilnahme daran total wichtig sei. Alles nicht wirklich überzeugend, aber ich konnte ihn ja schlecht festhalten.«
    »Von wem ist Alfred abgeholt worden?« Frauen. Können eine Viertelstunde reden, ohne zum Punkt zu kommen. »Von Johanna und Jacob.«
    »Ja, Scheiße.« Mein Magen gab ein gequetschtes Geräusch von sich. »Wissen Sie, wo die hinwollten?«
    »Auf eine Wiese im Uhlenhorst in Mülheim.« Ich rannte, klopfte meine Taschen nach den Autoschlüsseln ab. Wegen der dauernden Umzieherei hatte ich keine dabei. Ich rannte.
    Die Krähen machten wieder einmal einen unheimlichen Zirkus rings um ihren Baum. Im Apartment sah ich mich kurz nach der Katze um, doch die pennte ebenso friedlich wie haarig auf meinem Kopfkissen. Schlüssel in der Hand, stürzte ich raus, schwang mich ins Auto und … zögerte.
    >Spanner< hatte Priscilla mich bei unserer ersten Begegnung genannt. Sollte ich im Uhlenhorst in eine Falle gelockt werden, oder … Was für einen Grund konnte es sonst noch geben, den Ort gegenüber der Therapeutin zu erwähnen?
    Im letzten Licht des Tages sah ich die Krähen sich um irgendetwas balgen oder mit irgendetwas zoffen. Wildes Geflatter, wüstes Gekrächze. Eine ortsfeste, aufgekratzte schwarze Wolke.
    Mein Magen gab ein weiteres Geräusch von sich, und ich stieg wieder aus, querte die Ringstraße und rannte dann den Feldweg zum Rhein hinunter, geradewegs auf den Galgenbaum zu, Schrotgewehr wie selbstverständlich in der Hand.
     
    Ich stoppte vor dem Portal des Katholischen Krankenhauses und sagte: »Du kennst den Weg ja.« Alfred nickte, stieg aus und schleppte sich hinein. Jesus, er war zerhackt. Sein Kopf sah aus wie ein Klumpen Mett, den jemand über den Boden eines Friseursalons gerollt hatte. Aber immerhin hatte er seine Augen noch. Wäre ich in den Uhlenhorst gefahren, hätten sie ihm jetzt die Binde mit den drei Punkten über den Arm streifen können.
    Niemals wieder würde ich einer Krähe gegenüber so etwas wie Sympathie empfinden können. Noch immer musste ich mir

Weitere Kostenlose Bücher