Freddy - Fremde Orte - Blick
die anderen: „Sie müssen entschuldigen. Sie hat schlecht geschlafen und ist sehr nervös. Diese Feier bedeutet ihr sehr viel. Und dann diese ganzen … Merkwürdigkeiten! Sie weiß nicht, was sie sagt … Sonja ist eigentlich ihre beste Freundin. Die beiden sind ein Herz und eine Seele.“
Miriam nahm ihren Blick von Sonja und sah jetzt ihren Vater an. „Ich weiß sehr gut, was ich sage. Und was noch wichtiger ist: Ich weiß auch, was ich ursprünglich sagen wollte. Worauf ich seit Jahren zufiebere. Seit der Konfirmandenunterricht begonnen hat, habe ich mir vorgenommen, im Moment meiner Einsegnung alles offenzulegen, was war.“ Miriam musste immer wieder schlucken, und die Farbe auf ihrem Gesicht teilte sich in weiße und rote Stellen, doch ihre Stimme blieb laut und fest und zitterte nicht. „Alle sollten es hören, der ganze Haufen. In dem Augenblick, in dem der Pfarrer mir den Segen schenkte, wollte ich mich aufrichten und es hinausbrüllen. Und jetzt – jetzt sind sie alle weg …“
Ihr Vater hatte ihre Schultern losgelassen und war zurückgetaumelt, als hätte sie ihn weggestoßen. Sein Mund schnappte, aber es kamen keine Worte heraus.
„Wovon redest du, Miriam?“, fragte Pfarrer Schindel.
Vor Sonja drehte sich alles. Das Bild des zurückprallenden Vaters ging tief in sie hinein, immer tiefer und tiefer mit jedem Moment, um den es alterte. Sie verstand plötzlich, was Miriam meinte. Verstand es klar und deutlich. „Oh Gott, Miri …“
Sonja lief auf Miriam zu, wollte sie umarmen, doch das Mädchen hob abwehrend die Arme, bereit, sie von sich zu stoßen, falls sie ihr zu nahe kam. „Bleib mir vom Leib“, knurrte Miriam. „Ich brauchte dich und deinen Abgott nicht. Wo war dein Gott, als ich ihn brauchte? Du hast ihn mir ausgeliehen, ja, aber er saß nur da und hat gegafft. Mein Gott ist hier in dieser Kirche und überall, er heißt Jesus Christus, er ist für mich gestorben, und vor Jesus Christus werde ich jetzt preisgeben, was ich sechs Jahre lang in mich hineingefressen habe.“
„Miri, nein …“ Miriams Vater.
„Bitte nicht, mein Schatz!“ Miriams Mutter. „Wir regeln das unter uns. Wir sind doch eine Familie …“
„Ja, eine Familie!“, brüllte Miriam. „Eine schöne Familie, in der der Vater mit der Tochter ins Bett geht und die Mutter auf der Couch schläft!“
Sonja schrie auf. Sie war die Einzige, die einen Ton von sich gab. Den anderen hatten Miriams Worte die Lippen zugenäht. Miriams Mutter taumelte, ihr Vater stand wie ein Fels, ein steiler Berg, der alle überragte, ein Vulkan, dessen Gipfel sich dunkelrot verfärbte, der aber nicht ausbrach.
Eine Zeitspanne lang, die mit Uhren nicht zu messen war, blieben sie alle reglos, Schachfiguren in einem Spiel, dem die Regeln ausgegangen waren. In dem niemand mehr einen Zug machen würde, weil es keinen Sieg mehr zu erringen gab, weil alles verloren war. Weil der weiße König tot und der schwarze besiegt war. Weil die schwarze Königin den entscheidenden Schlag gegen ihn geführt und doch so schwer angeschlagen war, dass sie den Sieg nicht für sich beanspruchen konnte. Wer hatte schon jemals von einem Schachspiel gehört, das von einer Königin gewonnen wurde?
„I didn’t quite get this“, sagte Julies Onkel erstaunlich kleinlaut. „Would somebody please care to explain this to me?“
Niemand war so nett, es ihm zu erklären.
Und so hätten sie noch bis ans Ende aller Tage stehen können, hätte Sonja nicht den Drang verspürt, etwas Wichtiges zu unternehmen. Doch noch einen Zug zu machen.
Sie tat, was sie selbst bis vor wenigen Sekunden für unmöglich gehalten hätte. Wenn Miriam einen mutigen Schritt in Richtung Erwachsenwerden tat, wollte sie auch einen tun.
Sie ließ den durchbohrten Freddy fallen.
Legte ihn nicht behutsam auf die Bank. Gab ihn nicht in die Obhut von Onkel Werner.
Sie hob einfach den Arm und ließ ihn fallen. Es machte praktisch kein Geräusch, als er auf den Steinboden fiel. Nur seine Stimme war kurz zu hören.
Ö-ööh …
Sie drehte die Handflächen nach vorn, wie man es tat, um zu beweisen, dass man nichts in der Hand hatte. Dann ging sie langsam auf Miriam zu.
Auf dem letzten Meter kam Miriam ihr einen kleinen Schritt entgegen. Die Mädchen fielen sich um den Hals.
Ein, zwei Minuten lang hielten sie sich fest, ohne zu weinen. Dann sanken sie gemeinsam zu Boden und ließen den Tränen freien Lauf. Sonja hatte das Gefühl, etwas sei zum Abschluss gekommen, ein Kapitel in ihrer
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