Freddy - Fremde Orte - Blick
beider Leben sei abgeschlossen. Es war ihre Konfirmation. Die Bekräftigung ihrer Freundschaft. Sie wurden erwachsen. Miriam würde sich nicht mehr benutzen lassen. Sonja würde sich nicht mehr an ein Stofftier klammern.
Doch wenn sie geglaubt hatte, die Schrecken ihrer Kindheit seien damit abgeschlossen, irrte sie sich. Die Portale der Kirche hatten sich noch nicht wieder geöffnet. Das Grauen begann erst.
6
Zunächst splitterte eines der Fenster. Es zerbrach nicht als Ganzes – in der Szene eines über den See Genezareth gehenden Jesus brach lediglich ein winziges Stückchen Glas aus dem Boot der Fischer. Sonja hörte schon das erste feine Klirren, löste sich von Miriam und wurde Zeuge, wie die kleine braune Scherbe herausspritzte. Es sah aus, als hätte sie ein unsichtbarer Finger von außerhalb der Kirche herausgeschnipst. Die Scherbe flog bis zum Altar und traf klingend die Marmorplatte. Es erinnerte an das Geräusch von Münzen, die man in einen Wunschbrunnen warf.
Weitere Stücke aus anderen Fenstern folgten im Abstand von wenigen Sekunden. Es waren stets winzige Details, die herauskatapultiert wurden, und das Phänomen betraf nur die Fenster im vorderen Kirchenteil. Alle Splitter flogen in Richtung Altarbereich. Einer davon traf die Füße des hölzernen Jesus. Gleichzeitig fuhr ein Windstoß in die große aufgeschlagene Bibel und blätterte die Seiten um, ziellos offenbar, hin und her.
Die Menschen wichen zurück zwischen die Bänke. Deren Holz quietschte, als befänden sie sich nicht in einem Kirchenschiff, sondern auf einem echten Schiff auf unruhiger See. Einem alten Schiff. Irgendwo knarrte es wie morsche Dielen. Der Pfarrer stammelte etwas Unverständliches, Miriams Mutter stöhnte, und Julies Onkel bemerkte ernst, aber ohne Panik: „Paranormal activity. I think we are approaching a climax …“
„Das ist ein Erdbeben“, hielt Onkel Werner dagegen. „Wir müssen raus, Leute!“
„Hast du vergessen, dass die Türen zu sind?“, widersprach Sonja. „Und die Fenster sind zu hoch, um ranzukommen.“ Ganz zu schweigen davon, dass sie wohl kaum ein Kirchenfenster einschlagen würden, oder?
„Ein Erdbeben ist es ganz bestimmt nicht!“, rief Miriams Vater. „Miriam hat recht. Ich habe mit meiner Tochter geschlafen. Aber ich wollte ihr nicht wehtun. Herr, bitte vergib mir!“
Sonja wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Der Mann war offensichtlich überzeugt davon, dass sein sündiges Verhalten verantwortlich für das zeichnete, was hier passierte. Ihr kam das einfach nur lächerlich vor. Sie gönnte ihm die Scham und den Schmerz und die Angst von ganzem Herzen, aber Gott würde wohl kaum seine eigene Kirche zerstören, um diesen Mann zu strafen. Außerdem trafen die Splitterstücke nicht Miriams Vater, sondern den Altar, den heiligsten Teil des Gotteshauses.
Die Kräfte, die wirkten, attackierten keinen der Menschen, sie wandten sich gegen die Kirche selbst. Und damit gegen Gott.
„Der Teufel!“, schrie Miriam. „Das ist das Werk des Widersachers.“ In einem anderen Zusammenhang hätte es den Klang von Bigotterie und maßloser Übertreibung gehabt, gleich den Satan als Ursache zu bemühen – hier und jetzt schien die Bemerkung nicht unpassend.
„Nein“, meldete sich Pfarrer Schindel zu Wort. Seine leise Stimme konnte sich inmitten des anschwellenden Geräuschpegels kaum durchsetzen. „Das glaube ich nicht. Bleiben wir ruhig! Diejenigen, die beten wollen, sollen beten. Die anderen versuchen, eine der Türen aufzubrechen. Eventuell würde man uns auf der Straße hören, wenn wir laut um Hilfe rufen!“
Eventuell würden die anderen auf Sie hören, wenn Sie sich ein einziges Mal für eine klare Linie entscheiden könnten , dachte Sonja.
„We have to keep our calm“, mahnte Julies Onkel. „This power is not strong enough to bring the whole church down.“
„Und was ist das, hä?“, brüllte Miriam. Der Leuchter auf dem Altar schwankte und fiel mit brennenden Kerzen um. Es fehlte nicht viel, und die Bibel hätte Feuer gefangen. Pfarrer Schindel eilte und trat die Flammen aus, die ohnehin am Verlöschen waren.
Onkel Werner hatte sich wieder am Seitenportal zu schaffen gemacht. Er versuchte es zunächst mit Tritten, dann mit seinem gesamten Körpergewicht, und jedes Mal, wenn er gegen die Tür prallte, zuckten die anderen zusammen. Sonja wünschte sich, er würde damit aufhören. Wenn es überhaupt einen Weg hier heraus gab, dann nicht durch Gewalt. Die Türen hatten
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