Freddy - Fremde Orte - Blick
sich ausgerechnet geschlossen, als sie, Sonja, die Kirche verlassen wollte. Julies Onkel musste also recht haben: Sie war der Grund für das, was geschah.
Aber warum sie? Sie hatte kein Kind missbraucht und auch sonst niemandem wehgetan. Sie war es doch, die gelitten hatte! Die einen Vater an Creutzfeld-Jakob und eine Mutter an den Gin verloren hatte. Es war doch kein Wunder, wenn sie ein Stofftier zu ihrem persönlichen Gott auserkor! Eine harmlosere Art, ein verkorkstes Leben in Ordnung zu bringen, gab es wohl kaum! Wollte Gott das Original sie dafür bestrafen, dass ihre Kindheit total in die Hose gegangen war? Oder holte sich jetzt umgekehrt der Teufel das, was von ihrer Seele noch übrig war? Vielleicht war es seine letzte Chance, bevor sie das Glaubensbekenntnis gesprochen hatte und ihren Segen erhielt, und vielleicht …
Sonjas Gedankenstrom brach ab.
Ihre Mutter hatte sich erhoben. Zum ersten Mal, seit die Konfirmanden einmarschiert waren, stand sie. Die Frau musste sich an den Rückenlehnen ihrer und der vorderen Bank stützen und kam mit winzigen Trippelschritten in den Mittelgang heraus. Dort wurden ihre Schritte sicherer, und sie durchquerte den Bereich vor dem Altar ohne Hilfe, ging vor den Augen aller Anwesenden zu dem Rednerpult, den der Pfarrer längst verlassen hatte (nur Onkel Werner war in seinen aussichtslosen Kampf gegen eine zehn Zentimeter dicke Holztür so versunken, dass er nichts davon mitbekam). Am Pult konnte sie sich wieder festhalten und tat es auch. Das Pult wackelte und drohte umzukippen.
Mutter räusperte sich. Drei, viel Mal hustete sie sich den Hals frei, und das Mikrofon übertrug jedes Rasseln ihrer verschleimten Kehle. Mit Spannung blickten die Menschen nach vorne. Der Weg dieser Frau zum Pult fesselte ihre Aufmerksamkeit mehr als die kleinen Glassplitter, die noch immer aus den Fenstern geschlagen wurden. Als Sonjas Mutter endlich sprach, klang ihre Stimme leiser als ihr Räuspern und ihr schweres Atmen, und man musste genau hinhören, um sie zu verstehen. Kaum war ihr erster Satz aus den Lautsprechern gedrungen, stellte Onkel Werner seine Attacken auf die Tür ein.
„Warum hast du das getan?“, krächzte die Frau. „Warum?“
Sonja wurde es so heiß, als stünde sie auf einer Herdplatte. Mutter starrte sie an, und selbst wenn sie es nicht getan hätte, hätte kein Zweifel bestanden, dass sie von ihr redete.
Die Frau sprach weiter, langsam und mit großen Pausen zwischen den Sätzen. Es schien sie Kraft zu kosten, die Worte zu formulieren, geistige und körperliche Kraft. „Warum hast du mich verraten, im Stich gelassen? Warum stehst du nicht zu mir? Habe ich nicht alles für dich getan, wozu ich fähig war?“
In Sonjas Ohren rauschte es. Sie spürte Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Warum war es in dieser Kirche nur plötzlich so heiß? Mutters Stimme kam ihr merkwürdig vor, wie die eines Fremden. Gott, sie hatte ihre Mutter schon so lange nicht mehr reden gehört, dass sie schon vergessen hatte, wie ihre Stimme klang!
„War ich nicht immer für dich da?“, sprach die Frau gebeugt ins Mikrofon. Ihr Atem knisterte und fauchte wie heißer Wüstenwind. Es war eine unmenschliche, eine zerstörte Stimme, viel Luft, viel Knurren, Krächzen, Zischen, wenig Substanz. „Habe ich dich nicht beschützt, so gut ich es konnte? Habe ich dir nicht Trost gespendet? Warst du nicht stets das Wichtigste für mich?“
Du hast , schrie es in Sonja. Du hast, und ich war. Aber nur so lange, bis dir der Alkohol wichtiger wurde. Es tut mir leid. Ich wollte den Alkohol bestrafen und habe dich bestraft. Ich mache es wieder gut. Ich strenge mich an. Ich überdenke alles und beginne von vorne. Jetzt, wo meine Freundin Miriam den Mut gefunden hat, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, habe ich den Mut, es auch zu versuchen. Was geschehen ist, ist geschehen, aber was noch zu ändern ist, werde ich zum Positiven ändern. Schau, Mutter … Mama, ich habe schon mein albernes Stofftier weggeworfen. Ja, ich habe es für Miriam weggeworfen, das stimmt, aber ich glaube, ich habe es auch für dich getan. Ich löse mich aus meiner Erstarrung. Bitte, gib mir eine Chance! Lass mich meine Konfirmation zu Ende bringen, hör auf, mich zu strafen, auch wenn ich die Strafe verdiene. Ich werde mich bessern. Es tut mir so furchtbar leid. Ich sehe jetzt, dass alles, was hier geschieht, nur meinetwegen passiert. Was Miriams Vater seiner Tochter angetan hat, war schlimm, aber was ich dir angetan habe, war
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